1920, Berlin, eine Gruppe, vornehmlich aus aktiven und ehemaligen Angehörigen der Reichswehr unter Kapp und von Lüttwitz versucht, die Regierung der sehr ungeliebten Weimarer Republik wegzuputschen.
Die Parallelen zu unserem Reichsbürger-Putsch von neulich, also 102 Jahre später, sind so augenfällig, dass sie hier nicht weiter erläutert werden müssen.
Interessant finde ich die folgende Feststellung auf Wikipedia:
"Einen großen Anteil am Scheitern des Putsches hatte, neben der Verweigerung der Regierungsbürokratie und der Uneinigkeit der Militärs über die eigentliche Zielsetzung des Putsches, der folgende Generalstreik, der größte in der deutschen Geschichte."
Die Regierungsbürokratie und die arbeitende Bevölkerung setzten sich so mutig und solidarisch für die gerade eben erst installierte demokratische Verfassung ein? Chapeau! Aus heutiger Rückschau können wir vermutlich gar nicht hinreichend nachvollziehen, was das für die*den Einzelnen bedeutet hat, gegen welche - auch inneren - Widerstände und mit welchem realen oder gefühlten Risiko da ein ganzes Volk eine schwerwiegende und überhaupt nicht selbstverständliche Entscheidung getroffen hat.
Mir drängt sich die Frage auf, was heutzutage bei uns geschehen wäre, wenn die brandgefährliche Idioten-Reichsbürger-Truppe um den Prinzen Reuss ihren Coup durchgezogen hätte. Wenn sie, sagen wir, den Bundestag besetzten und über onlinene und öffentliche Medien wohlvorbereitete Nachrichten verbreiteten, dass jetzt herrliche Zeiten auf uns zukämen, Doitschland in den Grenzen von 1871 wieder doitsch, die Verfassung wieder absolutistisch-autoritär und diese ganzen unnötig kompliziert-angeschwulten Konzepte wie Demokratie, Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Umweltschutz usw. usw. wieder vom Tisch seien, dass die D-Mark wieder eingeführt und der weiße doitsche Mann wieder zum anbetungswürdigen Alleinherrscher der Familie und der Welt würde ... - und was AfD-Nazis sonst noch so in ihren feuchten Träumen herbeifantasieren, aber öffentlich nur sehr verklausuliert anzudeuten sich trauen.
Ich denke drüber nach, ob wir heute, Dezember 2022, so viel aufrechte, mutige und unbeirrbare Demokrat:innen unter uns haben, dass wir die machtgeilen Fascho-Arschlöcher wie vor 102 Jahren durch schlichten, kollektiven passiven Widerstand quasi auf eine parkende Faust liefen ließen. Haben wir unsere Jugend gut genug zur Demokratie erzogen? Sind wir, die Alten, selbst so fanatische Anhänger der FDGO, dass wir, wenn nötig, für deren Erhalt persönliche wirtschaftliche und gesundheitliche Risiken einzugehen bereit wären?
Oder sind wir faul und bequem, nachlässig, unkritisch und korrupt geworden? Würden wir vielleicht wie 32/33 bereit sein, immer weitgehendere Kompromisse zu machen, wünschend, das eigene Schäfchen im Trocknen zu behalten und hoffend, es werde schon alles nicht so schlimm werden?
Schade, dass ich keine eindeutigen Antworten auf alle diese Fragen finde. Wie beunruhigend, dass ich Zweifel verspüre.
Aufgabe: