Samstag, 25. August 2018

Vernunft ist so oldschool!



Tagesschau-Online bringt einen Artikel zu einer neuen Meta-Studie zur schädlichen Wirkung von Alkohol. Viel gefährlicher als gedacht, etc. etc. Hundertmal spannender als der Artikel sind aber die 128 Kommentare:

Gefühlte 80 % der ScribentInnen versuchen sich irgendwie aus der Vernunft-Nummer rauszuwinden. Zusammengefasst lauten die Argumente etwa so:

  • Ich lasse mich vom Vernunft-Faschismus belastbarer wissenschaftlicher Aussagen nicht unterdrücken. Mein reptilienhirngesteuertes Verhalten ist zwar komplett doof und selbstzerstörerisch, aber ich verkaufe es einfach als heldenhaften Widerstand gegen ein diktatorisches System. Gibt es keine dazu passende Verschwörungstheorie?
  • Ich habe so rein bauchmäßig-emotional nicht das Gefühl, dass Alkohol ein Zellgift ist. Deshalb (!) kann die Studie nicht stimmen.
  • "Die" haben uns schon Frauenfeindlichkeit verboten und Schwulenhass, und "Neger" oder "Bimbo" dürfen wir auch nicht mehr sagen, kein Fleisch essen, keine Stinke-Autos fahren - und jetzt sollen wir auch noch am Saufen aufhören? Wozu leben wir dann noch? Ein Grund mehr, die AfD zu wählen, die sagen mir immer wieder, dass das total gut ist, was ich mache. 
  • Ich kenne ein paar Leute, die haben ihr Leben lang gesoffen und sind steinalt geworden. Das ist zwar nur meine völlig unrepräsentative, nicht-falsifizierbare Blödmann-Meinung, aber die hau' ich erstmal raus, schließlich gipps ja sowas wie Meinungsfreiheit.
  • Es gibt viiiiel schlimmere Dinge als alkoholbedingte Krankheiten und Todesfälle. Ausländer zum Beispiel. Oder das Wetter. Oder die Benzinpreise. Oder Schalke könnte das nächste Spiel verlieren. Oder gewinnen. Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad ...  Darüber sollten die mal berichten. Aber das wird ganz absichtlich verschwiegen. Wie war nochmal die Frage? 
  • Also, ich bin dagegen, dass Alkohol krank macht, und schließlich leben wir in einer Demokratie. Aber Diedaoben machen ja sowieso, was sie wollen. Auf uns kleinen Leute hört ja keiner. Da wird's schon Zeit, dass da mal einer aufräumt. Der Trump macht's richtig. Und der Erdogan, der Orban, der Gauland, die machen's auch richtig. Merkel muss weg.  

Gefühlte 15 % der Kommentare zielen in die Richtung ethisch-ökologischer Besserwisserei, und man hat das Gefühl, dass sich hier langjähriger Frust über die ignorante Häme der Spießer entlädt. Ignorante Spießer-Häme kotzt mich auch an, aber es wäre der guten Sache wirklich dienlich, wenn die Kritk nicht nach dem Schema "Selbst schuld, allzu sterblicher Normalverbraucher! Bereue und nimm dir ein Beispiel an mir: Ich lebe seit zwölf Jahren nur von Sellerie und Eigenurin, vermeide Sex und Aufenthalte im Sonnenlicht und fühle mich wunderbar." erfolgte.

Es bleiben vielleicht 5 %, einsame Rufer in der Wüste, die in schlichten Worten auf die schlichte Tatsache hinweisen, dass Alkohol tatsächlich ein Zellgift ist, ein hocheffektives übrigens.

Es bleiben Fragen:

  • Was muss sich am Wissenschaftsbetrieb, vor allem in der Frage der Veröffentlichungen, ändern, damit relevante Ergebnisse angemessene Beachtung finden und nicht so schrecklich einfach in der Meinungsmühle zermahlen werden können?
  • Was muss sich in allgemeinbildenden Schulen ändern, damit die Menschen (wieder?) in die Lage versetzt werden, den Unterschied zwischen falsifizierbaren wissenschaftlichen Aussagen einerseits und dem reality-soap-gecasteten Meinungsdünnschiss von nieder-intelligiblen RTLII-C-Promis zu erkennen?
  • Wie kann man Menschen dazu ermuntern, wieder Eigenverantwortung zu übernehmen und mit Kant sich mutig zu entschließen "sich [ihres] Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen"?

Lasst uns, wenn wir es denn unbedingt wollen und (WICHTIG!) soweit wir niemand Anders damit schädigen, rauchen und saufen und rumsexen und ... und ... und. Und wenn uns die solcherart akkumulierten Risikofaktoren eines Tages die finale und sehr persönliche Rechnung präsentieren, dann lasst uns, ohne die Schuld auf Andere abschieben zu wollen und ohne die Solidargemeinschaft über Gebühr zu belasten, vor allem aber ohne Weinen und Greinen möglichst voller Würde (und mit ein bisschen Trotz und einem wissenden Lächeln) abtreten.




(verändert via wiki commons)









Samstag, 11. August 2018

Verflochten ... Soso!


Interessant: Der Absturz der türkischen Währung und Wirtschaft hätte, so titeln die Nachrichten-Portale, wegen der engen wirtschaftlichen Verflechtung Konsequenzen für ganz Europa.

Und wieder zwicken so hintenrum diese teuflischen Fragen:

Ist es also tatsächlich so, dass der polit-öffentliche Kritik-Sprech an dem Anti-Demokraten, Selfmade-Diktator und Unsympathen Erdogan keine Konsequenz hatte, sobald es um Profit ging? Hat also kein deutsches oder europäisches Unternehmen gesagt: "Wer uns, unsere Regierungschefin, ständig mit Nazis vergleicht, unsere Landsleute grundlos einsperrt, Menschenrechte mit Füßen tritt und Angriffskriege gegen ethnische Minderheiten führt, mit dem wollen wir keine Geschäfte machen."? Gab es, kurz gesagt, überhaupt kein ethisches Gewissen?

Und werden die Unternehmen, die nun also jahrelang aus bedingungsloser Profitgeilheit mit dem Bösen paktiert haben und nun merken, dass die Profite aus diesem Handel versiegen, ja, sogar in Verluste umschlagen könnten - werden diese Unternehmen den wirtschaftlichen Schaden auf die Gemeinschaft, auf die kleinen Leute, auf Dich und mich abwälzen? Warum ist die Rezession ein Schaden für ganz Europa? Warum nicht nur für die Banken und Waffenschmieden, die bis zur Bruchbelastung mit den türkischen Unternehmen gezockt haben, ohne Rücksicht auf ethische und materielle Verluste und ohne sich auch nur im Geringsten um die gut sichtbaren ökonomischen Warnsignale zu scheren?

Ich würde gerne in einem Wirtschaftssystem leben, in dem Konzerne, die unethisch agieren und hirnlos zocken, irgendwann auch mal 'ne Rechnung dafür begleichen müssen.


(via wiki commons)







Sonntag, 5. August 2018

Vornehmer Ekel hilft nicht.



Thea Dorn weist selbst vielfach darauf hin, wie schmal der Grat ist, auf dem wir wandeln, wenn wir "Deutschsein" definieren - und wie gefährlich es wäre, diese Definition weiterhin immer nur den Rechten zu überlassen.

Wie langweilig wäre es, stimmte man mit allem überein, was Dorn schreibt. Aber sie liefert so vielfältige und umfassende Quellen, dass man animiert - genötigt? - ist, eigene Auffassungen zu kontrollieren oder überhaupt erst zu bilden. Und man findet überreichlich valide Fakten, um den dunkeldumpfen Doitschtümlern und den Fundamentalisten jeder Couleur das Maul zu stopfen.

Was kann ein Sachbuch Schön'res leisten?








Freitag, 3. August 2018

Gewissensnot - öffentlich zelebriert


Ich bin ja eigentlich nicht (mehr) zimperlich, wenn es darum geht, soziale Normen über Bord zu schmeißen, die ich nach aufmerksamer Prüfung als un- bzw. widersinnig erkannt habe. Ich trage kaum noch Schuhe, im Sommer an nicht-öffentlichen Orten nur selten Klamotten, aber - falls doch - durchaus auch mal Sarongs und seit ein paar Monaten 'ne Haarklammer, wenn mein Pony nervt ...

Nun winde ich mich aber doch, scheue merklich davor zurück, eine weitere, als unvernünftig erkannte Norm zu kicken ...

Anscheinend gibt es einen Normenkomplex in meinem Kopf, der mir bislang noch nicht bewusst geworden ist, der lautet: 
  • Du darfst unter keinen Umständen Haushaltstipps im Sinne spezifischer Produktempfehlungen machen. 
  • Erst recht darfst Du das nicht, wenn es um Reinigungsmittel geht. 
  • Und wenn diese Reinigungsmittel dann auch noch konventionell und völlig un-bio sind und obendrein von einem Chemiekonzern stammen und nicht etwa von irgendwelchen progressiven Öko-Leuten, dann bist Du, wenn Du das empfiehlst, ein spießiger, ewiggestriger, verantwortungsloser, dummer Vollidiot, mit dem ich künftig nicht mal mehr Selbstgespräche führen werde!

Tja, das scheint die Norm zu sein, die mich gerade so belastet. Auf der anderen Seite steht die Vernunft: Ich habe gerade zufällig, nachdem ich's mit einigen anderen neuen und konventionellen Mitteln vergeblich versucht habe, hartnäckige Flecken in meiner Küchenspüle mit einem Produkt von Cilitbang (TM) ratzfatz weggekloppt, und das ging so schnell, dass ich ernsthaft richtig begeistert bin.

Und warum, verdammt nochmal, soll ich dieses Wissen nicht teilen, in einer Welt, in der wir mit Produktwerbungen dichtgeballert werden, die allesamt ausschließlich profitorientiert und ergo gelogen sind? Warum sollen wir - unterhalb der großen, öffentlichen Arenen (Habermas) - uns nicht austauschen dürfen, wenn mal was nicht völliger Schrott ist? Es ist auch ein Teil des Kampfes gegen die Macht der Konzerne, wenn man die allzuwenigen Positiv-Beispiele hervorhebt. Guerilla-Kommunikation.

Kein schlechtes Konzept, auch wenn's anfangs schwerfällt.




(verändert via wiki commons)