Neulich im Provinzblatt das Zitat von Antonin Artaud gelesen:
"Wo Einfachheit und Ordnung herrschen, kann es anscheinend weder Theater noch Drama geben."
Muss sagen, war begeistert! Stellte bei weiterer Recherche aber fest, dass Artaud das bedauernd meinte: Er wollte Theater, es entspringt seiner Meinung nach "einer werdenden Anarchie, nach philosophischen Auseinandersetzungen, welche die spannende Seite jener ursprünglichen Vereinigungen sind." Keine Ahnung, was für "Vereinigungen" er meint. Habe das Zitat ja selbst aus dem Kontext gerissen. Und in der Diss, in der ich es gefunden habe, ist man auch nicht schlauer ... Und es ist auch völlig wurscht!
Mir geht es nämlich um das von mir missverstandene, das vom Provinzblatt verkürzt wiedergegebene und das von allen aus dem Kontext gerissene Zitat:
"Wo Einfachheit und Ordnung herrschen, kann es anscheinend weder Theater noch Drama geben."
Das ist doch brilliant! Ich übersetze: Wannimmer Menschen ihr Leben schlicht und frei von Begierde gestalten und einander auf der Basis von Gewaltfreiheit, Würde und Toleranz begegnen, sind Alle glücklich und zufrieden. No more Dramas!
Diese Erkenntnis ist uralt und allseits bekannt, eigentlich banal. Schauspiele, Dramen also, Theater und Film, basieren aber laut Artaud grundsätzlich darauf, uns Figuren vorzuführen, die permanent vorsätzlich gegen diese einfache Erkenntnis verstoßen. Würden die Figuren in "Romeo und Julia" ein klein wenig nachdenken und ein klein wenig miteinander reden, würde der Plot auf der Stelle zusammenbrechen. Die Settings sind so gekünstelt, so theoretisch, dass ich mich wundere, warum wir als Zuschauer stundenlang dabei zuschauen, wie auf der Bühne oder der Leinwand das allzu-offensichtliche Richtige nicht getan wird. Wo ist da der Witz?
Es gibt nur einige wenige Schauspiele, die brilliant sind, weil man bei denen denkt "Au Backe, das ist aber mal ein echt fieses Problem, wie kommt man da denn mal mit Einfachheit, mit Denken und Miteinander-Reden raus?". Der "Faust" zum Beispiel. "Apocalypse Now". Oder viele Sachen von Brecht.
Und dann gibt es ja zum Glück noch Situationen, in denen Denken und Reden nicht möglich sind oder nix helfen würden, z. B. "Star Wars" (aber nur Episode IV bis VI), "Wilhelm Tell", "Avatar". Da muss dann eben auch mal ein bisschen (eigentlich: jede Menge!) Gewalt angewendet werden, und Schauspiele dieses Genres tragen zuweilen den Hautgoût des Trivialen. Die Leistung der AutorInnen dieses Genres ist aber daran zu messen, wie plausibel sie nachweisen, dass Einfachheit, Denken und Miteinander-Reden in ihrem Handlungsverlauf definitv nicht zielführend wären.
Selbst Koryphäen wie Tolkien haben diesbezüglich durchaus Defizite: Im "Herrn der Ringe" ist Sauron ein ultimativer Drecksack, die (Kriegs-) Geschichte stimmig, denn hobbitmäßige Einfachheit und Ordnungsliebe, Denken und Miteinander-Reden gehen da gaaar nicht. Liest man dann aber das Kleingedruckte im "Silmarillion", stößt man auf einen Vater-Sohn-Konflikt, der sich gewaschen hat, und Sauron steht plötzlich als arme Wurst da, Illuvatar, der höchste Gott, der es doch hätte besser wissen müssen, als unkommunikativer Blödmann und Teil des Problems, nicht der Lösung. Die ganze Chose ist also wieder nur darauf zurückzuführen, dass zwei Leute, naja: Götter, nicht nachgedacht und vernünftig miteinander geredet haben, als sie es hätten tun können. Wenn man das aber im Hinterkopf hat, dann macht das ganze Gemetzel im Ringkrieg nicht mehr sooo viel Spaß.
Man muss Tolkien, dem größten Mythenschöpfer seit Abraham, aber Gerechtigkeit widerfahren lassen: Es ist, wenn man's genau bedenkt, sauschwer, eine Handlung zu entwerfen, in der NICHT Einfachheit, Toleranz, Gewaltfreiheit, Denken und Miteinander-Reden die Konflikte implodieren ließe. Die Idioten in Nord-Korea, im Kreml und der US-Junta lassen sich als Topoi auch nur begrenzt literarisch wiederverwerten. Irgendwann hat's Jede/r kapiert (bis auf besagte Idioten), und dann wird's fad.
(verändert via wiki commons)
Ihr könnt sagen, was Ihr wollt: Darth hatte es als Drama-Maker einfach drauf!
Jedenfalls solange, bis LucasArts aus Geldgier die Geschichte seiner Pubertät (Episode I-III) verfilmen musste. Wie konnte man nur ein so schönes Drama nachträglich so hirnverbrannt in die Grütze schieben? Der tobsüchtigste Höllenfürst ist erledigt, wenn ich Bilder seiner Kindheit ("Hier beim Wickeln, da mit Dreirad ... und bei der Einschulung, ... ") gesehen habe.