Sonntag, 27. Juli 2025

Wahrheit, Recht und Gesetz - aussterbende Kulturtechniken


Ich las gerade das mir bislang unbekannte Wort "legitimistisch", übersetzte es für mich als "Streben, sich an Recht & Gesetz zu halten" und fand's gut. Da ich unsicher war, fragte ich Tante Wiki und war enttäuscht: Legitimisten sind und waren jene, die nach einer Revolution die alten Monarchen wiederhaben wollen. Meine Übersetzung war also totaler Mist, Legitimisten sind Dumpfbacken!

Anschließend recherchierte ich noch ein wenig nach einem Begriff, der Menschen bezeichnet, die es gut finden, sich an bestehende Gesetze, an Recht und Wahrheit zu halten, fand aber nichts. Logisches Denken führte mich zu folgender Erklärung: Es gibt noch keinen Fachbegriff für "Streben, sich an Recht & Gesetz zu halten" weil es bislang eine Selbstverständlichkeit war, die nicht besonders erwähnt werden musste. 

Erst in jüngerer Zeit wurde der absichtsvolle, konkrete, propagandistisch intendierte Verstoß gegen bestehendes Recht, das unverhohlene Lügen, die Instrumentalisierung "alternativer Fakten", zu einer Option politischen Handelns. In der kapitalistischen Wirtschaft ist das Gleiche schon länger zu beobachten, da die Marketing-Tussis und -Fuzzies schon immer hart an und über der Grenze der Lüge und der Legitimität segelten und mit dem juristischen Kunstgriff des Rechtsbindungswillens alle unethischen Akte sich erlauben können¹, die normale Menschen in Konflikt mit bestehendem Recht, Treu und Glauben und der Wahrheit brächten.

Vergleichbar ist das Wort "Analphabetismus", das vor etwa 1850 einfach nicht existierte, weil es nicht gebraucht wurde, weil nämlich klar war, dass die Menschen im Regelfall des Lesens und Schreibens unkundig waren, von selbsterklärenden Ausnahmen (Kleriker, Akademiker, höheres Bürgertum, teilw. Adel) abgesehen. Erst als die Alphabetisierung flächendeckend wurde, bedurfte es eines Wortes, die Unkundigen zu bezeichnen.

In unserem Kulturkreis wird der akzeptierte Verstoß gegen Gesetze und Wahrheit flächendeckend und zum Regelfall. Folglich benötigen wir ein Wort, das Menschen bezeichnet, die es immer noch gut finden, sich an bestehende Gesetze zu halten² und die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen. 

Da bin ich noch auf der Suche. "Normalos" finde ich gut, weil da das Wort "Norm" drinsteckt, wir sollten aber die genderfreie Version "Normalys" nehmen. Wir meinen damit natürlich keine abelistische, sondern ein statistische Definition von Norm. Ich hoffe jedenfalls sehr, dass noch über die Hälfte der Menschen Gesetz und Wahrheit schätzen, anders als ausnahmslos alle die Knallköppe aus Politik und Wirtschaft. 

Für weitere Hinweise wäre ich dankbar.

Begriffsvarianten mit "Wahrheit" und "Ehrlichkeit" und "Gesetzestreue" klingen - tut mir leid, das sagen zu müssen - irgendwie nach "Verein nützlicher Idioten". Wie abgehärmt ist unser moralisches Denken, dass wir diese Worte mit "Naivität" gleichsetzen. Ich schäme mich.


(via wiki commons)


Früher war nicht alles besser, im Gegenteil. Aber so, wie es jetzt läuft, ist's auch shyce.







¹ Beispiel: "Jaaa, es gibt funktionierende Rasierapparate. Darauf wollten wir mit unserer Werbung hinweisen. Damit wollten wir aber NICHT sagen, dass UNSERE Rasierapparate funktionieren. Wo kämen wir denn da hin?!"

² Man ist dann keineswegs Sklavy der Gesetze. Wenn man Gesetze shyce findet, kann man in einer Demokratie dafür eintreten, sie zu ändern. Man kann aber nicht unliebsame Gesetze einfach ignorieren, um nur jene zu befolgen, die einy in den Kram passen. Wenn man in einer Autokratie lebt und deren Gesetze shyce findet, kann man auswandern und / oder solidarisch mit anderen (!) eine gewaltfreie Revolution anzetteln. Einfach so für sich gegen Gesetze und Wahrheit zu verstoßen, ist niemals eine kluge Option.