Dschong-La besuchte Gobba-Lan und sprach: "Ich will ergründen, warum ein Volk mit so reicher Kultur wie das unsere sich ängstigen kann, es könne von Minderheiten unterwandert, verdrängt und ersetzt werden."
Gobba-Lan antwortete: "Die Leute sehen, dass diese Minderheiten zusammenhalten. Dort gibt es Solidarität. Dort hängt Dein Ansehen weniger davon ab, wie reich Du bist, welchen Schulabschluss Du hast, wie klug Du bist, welchen Beruf Du ausübst. Dort bist Du willkommen, einfach, weil Du ein Mitglied dieser Minderheit bist. Diese Gruppen machen der*dem Einzelnen ein Angebot, das unglaublich attraktiv ist und das unsere, ach, so großartige Kultur nicht macht. Mehr oder weniger bewusst erkennen wir, dass diese Gruppen in etwas hineinstoßen, was bei uns ein Vakuum, eine gefährliche Fehlkonstruktion ist."
Dschong-La: "Fehlkonstruktion?"
Gobba-Lan: "Unser System beruht auf dem individuellen Egoismus und der individuellen, hemmungslosen Gier. Parameter der Leistungsmessung sind nicht Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Solidarität. Unser Idealbild ist der clevere Geschäftsmann, der dadurch reich wird, dass er um des persönlichen Profites willen die Grenzen der Ethik und der Legalität noch ein bisschen brutaler überdehnt als sein Konkurrent. Sowas bewundern und belohnen wir, obwohl bei diesem Prinzip der Einzelne sich grundsätzlich auf Kosten der Gemeinschaft bereichert. Wir wissen von dieser Fehlkonstruktion, tun aber nichts dagegen, denn wir sind längst zu korrumpiert von der Idee, selbst davon profitieren zu können."
Dschong-La: "Najaaa, perversen Egoismus und krankhafte Raffgier gibt es in den Reihen der Minderheiten auch. Außerdem extreme Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Homophobie, ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie, zur Umwelt ... undsoweiter. Genau genommen sind viele von denen ekelhaft spießige, verbohrte, ewiggestrige Knallköppe, noch schlimmer als bei uns."
Gobba-Lan: "Ja-ha! Verglichen mit unserem aufgeklärten, humanistischen, freiheitlichen und demokratischen Gesellschaftssystem haben die Konzepte dieser Minderheiten auch keinen Bestand. Aber es ist gut und richtig, wenn wir registrieren, dass die auch etwas haben, was wir nicht haben: Die Wertschätzung und das Gefühl des Willkommen-Seins gegenüber allen ihren Mitgliedern. Das gibt es bei uns zwar irgendwie auch, ist aber bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert und für einfältige Seelen nur schwer erkennbar. Die Nazis nutzen dieses Manko übrigens auch eiskalt aus ..."
Dschong-La: "Was können wir tun?"
Gobba-Lan: "Auf politischer Ebene fällt mir nix ein. Aber jedes Mensch für sich könnte ja mal anfangen zu versuchen, andere wertschätzender zu behandeln. Nur so 'ne Idee..."
aus: Thylni Nidnovi (Hg.): Das Buch von der Weite von Himmel und Erde (BdW); Band X: Entwicklung II; Aarsfurt; 512 v. Metis; S. 124 f.
Klimt: Veritas 1899