Als Gérard Depardieu noch ein richtig guter Schauspieler war und nicht nur hauptberuflicher Infantil-Egomane, gelang ihm in dem Film "Mammuth" eine großartige Szene, in der er als frühverrenteter und etwas langsamdenkender Schlachthofmitarbeiter nach vielen Jahren einen ehemaligen Arbeitgeber fragt, warum dieser damals keine Sozialversicherungsabgaben für ihn entrichtet habe, und der Arbeitgeber antwortet mit einem langen und sehr logischen Vortrag, der in den Worten kulminiert: "Du bist blöd. Das ist der Grund. Wir haben Dich da nicht angemeldet, weil Du blöd bist."
Für einen Moment herrscht Zweifel, ob Mammuth darauf gewalttätig reagiert, aber er stutzt nur, nickt und sagt hilflos "Ah ja!", als wäre er gerade nicht betrogen und beleidigt worden, sondern als hätte er soeben an einem sehr klugen und nachvollziehbaren Gedanken teilhaben dürfen.
Gestern hatte ich ein Telefonat mit einem Repräsentanten der DSL-Bank, von dem ich eigentlich wissen wollte, an welche Adresse ich die erste Mahnung des gerichtlichen Mahnverfahrens schicken solle, da die DSL-Bank seit Oktober letzten Jahres nicht mit der Änderung der Grundbucheintragung meines seitdem abbezahlten Hauses (Hurray!) in die Hufe kommt. Die Antwort dieses Repräsentanten war ebenfalls ein langer, logischer Vortrag, zwar nicht des Inhaltes, ich sei blöd, jedenfalls nicht direkt, aber dennoch so, dass ich ob der brutalen Offenheit nur zwischen gewalttätigem Protest und hilfloser Pseudo-Einsicht wählen konnte:
Meine Klage sei ihm keineswegs neu oder ungewöhnlich, sagte der Herr Repräsentant, aber ich müsse verstehen: Wenn eine Finanzierung erledigt sei, weil der Kredit abbezahlt, dann verdiene die DSL-Bank daran kein Geld mehr. Folglich säßen in der Abteilung, die die nachgehenden Prozesse bearbeite, wie z.B. die allfälligen Grundbuchänderungen, eigentlich nur inkompetente, unmotiverte, unintelligente und in anderen Abteilungen unbrauchbare Mitarbeiter, die einfach nichts geregelt kriegten und außerdem spiele so eine Grundbuchänderung außer für mein persönliches Wohlgefühl keine Rolle, und wenn ich irgendwann mein Haus verkaufen wollte, sollten die Notare sich darum kümmern und die Sache nochmals massiv bei der DSL-Bank einfordern.
Ich habe genickt (obwohl das am Telefonat immer etwas dämlich ist), ich habe hilflos "Ah ja!" gesagt, und ich habe sogar meine Frage vergessen, wegen der ich eigentlich angerufen hatte.
Man verstehe mich nicht falsch: Ich will mich nicht über die DSL-Bank beschweren *. Ich finde es aber so überwältigend, wie selbstverständlich und wie diskursfähig es mittlerweile geworden ist, dass große Konzerne individuelle Privatkunden ohne jeden Hauch ethischen Zweifels, sogar ohne das Bemühen auch nur vorgetäuschter Ethik, ausnehmen. Ein Konzernvertreter, der mir offen sagt, mein berechtigtes Anliegen interessiere dort nicht mehr, da mit mir derzeit kein Profit mehr zu erzielen sei ... Chapeau!
VW macht es ähnlich, wenn der Konzern öffentlich zugibt, US-Kunden würden für den bandenmäßigen Betrug, den der Konzern begangen hat, natürlich entschädigt, deutsche Kunden natürlich nicht, weil das den Profit der Aktionäre schmälern würde. Was soll man machen? Hilflos nicken und "Ah ja!" sagen? Dazu gibt es eigentlich zu viele weitere Beispiele, die uns spontan einfallen.
Früher war das nicht anders, völlig klar. Aber früher hatte man den Anstand, derlei zu kaschieren. Und noch viel früher waren Geschäftsführer noch Geschäftsführer und keine austauschbaren CEOs und sie empfanden sowas wie persönliche Scham. Und noch viel, viel, viel früher, da griff ein Firmen-Chef auch schon mal zum Revolver, zum soliden Strick oder zum Wakizashi, wenn zu viel unethisches Geschäftsgebaren ruchbar wurde und er noch einen Hauch Ehre im Leib hatte.
Acta est fabula. Vielleicht ist es sogar besser, wenn die Arschlöcher ganz offen und ehrlich Arschlöcher sind. Was ist schlimmer als ein Arschloch? Ein verlogenes Arschloch. Na bitte.
Aber die frühkindlich-natürliche Sandkisten-Kinder-Ethik rumort in mir und findet Arschlöcher eigentlich immer noch doof, egal, ob sie offen oder verlogen agieren. Und der 57jährige alte Sack fragt sich, ob er diese brechreizerregende Offenheit zügelloser Profitgier tolerant in sein ohnehin nicht gerade sonnig-fröhliches Welt- und Menschenbild einbauen sollte oder ob es nicht doch an der Zeit ist, Altersstarrsinn zu reklamieren und mit zunehmender Lautstärke zu fragen, ob jetzt in Sachen Ethik eigentlich Alle völlig durchgedreht seien und was eigentlich noch passieren müsse, bevor wir die "Masters of the Universe" kastrieren, statt immer weiter nur zu nicken und "Ah ja!" zu sagen.
...
Oha. Sollte ich mich ein wenig echauffiert haben?
Schnell zwei Gegenbeispiele:
Karina Paulsen, Pflegedienstleitung bei der Sozialstation Wesermarsch-Ammerland. Hat Urlaub, kommt aber trotzdem freitagnachmittags vorbei, weil der Medizinische Dienst der Krankenkasse bei meinem Vater die Visite zur Festlegung der Pflegestufe macht.
Gemeinde Wiefelstede, Fachbereich Innere Dienste/Bürgerservice, eine Behörde (!!!): Alters- und krankheitsbedingt sind meine Eltern immobil. Nun müssen aber neue Personalausweise her und dafür bedarf es persönlichen Erscheinens "au dem Amt". Eigentlich nicht vorgesehen, aber spontan möglich gemacht: Eine Mitarbeiterin kommt vorbei und erledigt alles. Danke, Frau Tabke!
Was lernen wir aus alledem? Dreisatz:
1. Es gibt viel zu viele Beispiele für brechreizerregend unethisches Verhalten. Meistens im Zusammenhang mit der Möglichkeit, viel und schnell Profit zu machen.
2. Es gibt viele Beispiele für Menschen, die einfach nett und selbstlos sind, obwohl sie keine unmittelbaren Vorteile daraus ziehen, sondern einfach nur denken, dass eine Welt, in der es solche netten Menschen bzw. Verhaltensweisen nicht gäbe, keine Welt wäre, in der sie gerne leben wollten bzw. könnten.
3. Der Unterschied zwischen netten Menschen und Arschlöchern ist so grell-schreiend offensichtlich, dass ich künftig jedes klügelnde Geschwurbel über diesbezügliche Definitionen zurückweisen werde.
(Eigenes Foto, stark verändert)
* Eigentlich doch. Aber das bliebe effektfrei, daher kann ich's auch lassen. Selbstverständlich werde ich nie wieder mit der DSL-Bank zusammenarbeiten. Die sind einfach viel zu gewieft für mich.