Lese gerade mit enormem Gewinn Neitzels "Deutsche Krieger". Ich verkneife mir das in derlei Zusammenhängen gern gewählte dümmlich-apodiktische Schlagwort von der "Pflichtlektüre", aber Neitzels Text ist Pflichtlektüre.
Völlig perplex bin ich von den Analysen zur Lage der Bundeswehr Anfang der 80er bis zum Ende des Ersten Kalten Krieges. Das war die Zeit, in der ich als Wehrpflichtiger Teil der Maschine war, und mich beschäftigen besonders folgende Aspekte:
1.) Es ist ein völlig doofes Gefühl, wenn Sachen, die Du selbst mitgemacht hast, plötzlich mit dem textuellen Habitus einer historischen Untersuchung aufgearbeitet werden. Ich fühle mich so ... alt.
2.) Neitzel erfasst die Widersprüchlichkeiten der Bundeswehr jener Zeit ganz vortrefflich. Ist die Bundeswehr für den Frieden oder für den Krieg da? Sind Soldaten also Killer oder Beamte? Kann die BRD gegen die "russische Walze" verteidigt werden, so dass hinterher etwas übrig bleibt, was den Aufwand gelohnt hat? Falls ja: Dann kann "der Russe" als Gegner aber nicht so stark sein, wie immer gesagt wurde. Falls nein: Was ist dann mit meinem Soldateneid? Darf ich dann überhaupt noch kämpfen, da ich doch schwor, mein Vaterland zu schützen? Angeblich wollen unsere Verbündeten uns helfen, uns gegen die Russen zu verteidigen, aber der Krieg bliebe niemals konventionell, und die französischen Atomwaffen reichten sowieso nur auf das Gebiet der BRD. Nennt mir plausible Gründe dafür, dass wir mehr sind, als das Bauernopfer für unsere "Alliierten"!
Als 18-/19-jähriger konnte ich diese Vorbehalte nur teilweise konkret ausformulieren, aber da war immer das Gefühl, irgendwas stimme nicht mit dem, was man uns erzählte. Allerdings war ich damals auch noch so naiv anzunehmen, man könne uns ja wohl nicht so grundsätzlich belügen und betrügen. Ich habe, ernsthaft, nach MEINEM Denkfehler gesucht, da ich ganz bescheiden davon ausging, Leute, die tausendmal mehr Ahnung von der Sache hätten als ich, würden so einen Schwachsinn nicht zulassen oder sie würden von anderen Leuten, die auch Ahnung hätten, diskursiv richtig was auf's Maul kriegen.
Heute bin ich weniger naiv, dafür ist mein Entsetzen, wie viel Lug & Betrug unsere Machthaber sich leisten können, um so größer.
3.) Sehr deutlich und interessant beschreibt Neitzel, welche Konsequenzen dieser völlig widersprüchliche, verquarste, kontra-logische Auftrag, besser: diese Gemengelage aus ganz vielen, einander widersprechenden Aufträgen und Erwartungshaltungen auf die Führungsebene der Bundeswehr hatte. Vom Unteroffizier aufwärts war klar: Wenn Du sowieso die ganzen Widersprüchlichkeiten in Deiner Auftragslage nicht auffangen und in eine sinnbringende Struktur überführen kannst, dann musst Du eben selbst entscheiden, welche Punkte Du wichtig findest, und an denen arbeitest Du. Den Rest ignorierst Du und versuchst irgendwie durchzukommen. Neitzel prägt dafür den Begriff "selektiver Gehorsam".
Dafür könnte ich ihn knudeln und liebkosen, denn was die Bundeswehr in den 1980ern durchmachen musste, ist in der staatlichen Schule heute immer noch Alltag: Von der Feigheit oder Unfähigkeit der demokratischen Gesellschaft, einen widerspruchsfreien Auftrag an Schule zu formulieren bis hin zur Resignation der Lehrer*innen, die, wenn sie zu den Guten gehören, auch nur noch mittels selektivem Un-/Gehorsam reagieren können. Wir nannten das dann bisher allerdings "Guerilla-Pädagogik", doch der Stolz und das Ansinnen, in einem als durch & durch schwachsinnig strukturierten und organisierten erkannten System seine Pflicht darin zu entdecken, im verdeckten Einzelkampf als Partisan gegen die Obrigkeit das Bestmögliche für die anvertrauten Menschen (hier: Schüler*innen) herauszuholen, ist absolut vergleichbar.
Der gute Sun-tzi hat in der "Kunst des Krieges" vor 2.500 Jahren gesagt, man dürfe von einer Armee alles fordern, Anstrengung, Gefahr, auch die bewusste Aufopferung zum Wohle des Vaterlandes usw., was man aber auf keinen Fall tun dürfe, sei, eine Armee vor eine unlösbare Aufgabe zu stellen.
Wollen wir diese Textstelle nochmal gemeinsam lesen? Schlagt mal das Buch auf, Seite ...
(verändert via wiki commons)