Mittwoch, 16. April 2025

Nackte Existenz

 

Stell' Dir einen warmen, sonnigen Sommertag vor. Zu irgendeinem "offiziellen Anlass" musst Du entsprechend "aufgebrezelt" erscheinen. Dann ist der Anlass vorbei, und Du kannst peu à peu abrödeln: Jackett aus, Stilettos gegen flache Schuhe tauschen, Krawatte weg etc. Was für eine Erleichterung!

Und dann stell' Dir vor, Du kommst an diesem Tag nach Hause und kannst endlich die restlichen Business-Klamotten gegen T-Shirt und Freizeithose tauschen. Was für eine Erleichterung!

Und dann stell' Dir vor, Du beschließt, noch kurz in den nahegelegenen Badesee zu springen, in  Badehose / Bikini. Was für eine Erleichterung!

Und dann stell' Dir vor, Du hast eines Tages einfach keine Lust mehr, ständig das nasskalte, sandige Perlon-Zeug auf den empfindlichsten Stellen Deiner Körperoberfläche zu tragen und ziehst sie aus. 

Klar soweit?

Der verbreitete Irrtum, Nackt-Sein verstoße bei uns gegen irgendwelche Gesetze, ist, wie gesagt, ein Irrtum. Das ist vielfältig nachlesbar, z.B. hier. Unanständig ist es auch nicht, wie sogar der sehr konservative Karol Woijtila, aka Papst Johannes II, unfehlbar versicherte.¹ Und die Auffassung, Nackt-Sein sei irgendwas Sensationelles, ist ausschließlich ein gesellschaftliches Konstrukt und anerzogen. Ganz hervorragend wird dies untersucht, belegt und dekonstruiert von Oliver König, 1991. Vielleicht reicht ja auch als Beweis, dass zahlreiche Kulturen tagaus, tagein öffentliche Nacktheit leben und das völlig un-sensationell finden. Eine angeborene Nackt-Scham gibt es bei Homo sapiens nicht, nur eine anerzogene.

Genug der Vorrede: 

Es beginnt wieder die Jahreszeit, in der ich immer öfter auf Klamotten verzichte, außer im dezidiert öffentlichen Raum (z.B. beim Einkauf, in Innenstädten). Das ist nicht sensationell, sondern ganz enorm bequem, angenehm und unglaublich praktisch. Und es hat nichts, absolut nichts mit Sexualität² zu tun, nichts mit Exhibitionismus und nichts mit Narzismus.

Auch unterliege ich nicht der irrigen Annahme, mein vollentblößter 63jähriger Körper mit einem BMI von 24,80 könne willige Sexualpartner*innen anlocken. In meinem Alter ist man in dieser Hinsicht entweder sehr realistisch oder ein kompletter Idiot oder man macht sich zu einem solchen.

Wenn ich sage, das Nackt-Sein an sich sei un-sensationell, dann stimmt das nur im engeren Sinne. Spannend, also in einem gewissen Sinne sensationell, finde ich den Mut und die Klarsicht, gegen Normen zu verstoßen, die mir im Zuge meiner spießbürgerlichen Sozialisation eingetrichtert worden sind, deren Blödsinnigkeit ich aber durch eigene Verstandesleistung festgestellt habe.

Der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, Kant lässt grüßen, ist ein sensationelles Erlebnis. Je öfter man das macht, desto besser fühlt man sich dabei.

Ansonsten: Nackt-Sein fällt mir überhaupt nicht mehr auf, weder bei mir noch bei anderen. Wenn ich aber im Hochsommer tage- und nächtelang mich der Kleidung entwöhnt habe, fällt mir mein späteres Bekleidet-Sein auf. Nervig. Sehr nervig.


Diesen Text habe ich für die Leute geschrieben, die mich hier in Haus und Garten nackt rumwuseln sehen und sich vielleicht fragen, was es damit auf sich hat. 



Dieses Schild, eigener Entwurf nach internationalem Vorbild, hängt neben meiner Haustür
und gilt natürlich nicht nur für mich, sondern, sofern gewünscht, auch für meine Gäste
 Eigentlich versuche ich gerade, auf Anglizismen zu verzichten, 
aber ich habe keine entsprechende Phrase im Deutschen gefunden. 





¹ Exhibitionistische Handlungen, d.h. sich zur Schau zu stellen, um sich daran aufzugeilen, sind eklig und nach StGB §183 strafwürdig, haben aber überhaupt nichts mit Nacktheit zu tun. 

² Diese Aussage ist ein bisschen gelogen. Wenn ein warmer Wind Deine Haut streichelt ... Oder ein milder Sommerregen ... Ist das Wohlgefühl dann schon sexuell? Oder erotisch? Oder einfach nur angenehm?