Dienstag, 27. Dezember 2022

Enkel-Frage: Ukraine-Krieg

 

In den 1960-70ern bedeuteten "Enkel-Fragen", dass die Heranwachsenden ihre Eltern bzw. Großeltern nach deren Erleben, deren Verstrickung, deren Verantwortung und Widerstand in der Nazi-Zeit befragten. Oft waren das schmerzliche, frustrierende und desillusionierende Familien-Prozesse.¹

Ich habe eine Scheiß-Angst vor den Fragen, die meiner Kohorte unweigerlich gestellt werden, genauer: vor den lahmen, erbärmlichen Antworten, die wir zu geben gezwungen sein werden, sofern wir ehrliche (!) Auskunft geben wollen.

Daher beginne ich jetzt schon mal, einige Dinge zu erläutern.

Enkel-Frage:
Warum habt Ihr nichts gegen die Eskalation des Ukraine-Krieges unternommen?  

Antwort:
Schwierige Frage. Es war der (nicht-geographisch-)westlichen Propaganda gelungen, den Gedanken in die Köpfe der Leute zu pflanzen, Du seiest entweder bedingungslos, kritiklos, gedankenlos, grenzenlos, tabulos und bar jeden Zweifels FÜR die Ukraine und das westliche Bündnis oder Du seiest ein Putin-Versteher, ein Russenfreund, Landesverräter, Feigling etc. etc.

Enkel-Frage:
Und auf welcher Seite standest Du?

Antwort:
Falsche Frage. Ich stand auf gar keiner Seite. Ich hielt Putin tatsächlich für einen rückwärtsgewandten, demokratiefeindlichen, LGBTQ-intoleranten, autoritaristischen Drecksack. Die USA hielt ich für pathologisch egoman, imperialistisch, tendenziell demokratiezerstörend, hirntot kapitalistisch, menschenverachtend. Ich wohnte zufällig in einem Land, das mit erbärmlicher Servilität den USA in den Arsch kroch, deren Kultur in äffischer Weise bis zur Selbstaufgabe kopierte und eine jahrzehntelange Tradition und Übung darin hatte, trotz vielfacher Erniedrigungen stets vorauseilend gehorsam zu sein.
Wir haben damals oft gesagt, uns würde es besser gehen, wenn die USA uns annektierten. Als 51. Bundesstaat der USA könnten wir dann wenigstens den Präsidenten mitwählen, der autokratisch über uns gebietet. Äh ... wie war nochmal die Frage?

Enkel-Frage:
Egal. Warum habt Ihr, hast Du nichts gegen die Eskalation des Krieges unternommen?

Antwort:
Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie völlig vergiftet die Stimmung durch die beiderseits nicht ungeschickte und sehr intensive, alles durchdringende Propaganda war. Der kleinste Hinweis, es sei ja auch nicht alles Gold, was die US-ukrainischen Führer da verzapften, machte Dich zum "Putin-Versteher". Und damit warst Du raus, gebrandmarkt, vogelfrei.
Die Nazis und andere autoritäre Systeme haben  Kritiker*innen noch durch staatlich verordnete Maßnahmen mundtot gemacht. Diese Maßnahmen konnten im Westen mittlerweile dank social media in die Köpfe der einzelnen Menschen verlegt werden. Vermutlich übertreibe ich hier ein bisschen, aber der Effekt war auf jeden Fall derselbe: Schon der Versuch eines rationalen, d.h. kritischen Diskurses stempelte Dich zum Verräter, egal, auf welche Seite Du wohntest.    

Enkel-Frage:
Klingt furchtbar ...

Antwort:
Ihr müsst das natürlich nachprüfen, immerhin verteidige ich hier mein eigenes Verhalten, bin also selbst parteiisch.
Dabei werdet Ihr übrigens feststellen, dass unsere Lage wirklich kompliziert war. Irgendwann begannen die Rechten in Europa, für Putin zu argumentieren. Damit war natürlich jeder eigene Ansatz, für Verständnis für die Gegenseite zu werben, vollständig kompromittiert. Dann kam eine einflussreiche deutsche Kommunistin ebenfalls auf die Idee, Putin zu unterstützen, aus alter Gewohnheit wahrscheinlich, und extreme Rechte und Linke hatten erstaunlich wenig Berührungsängste.
Und dann stell' Dir vor, Du stehst mittendrin in diesem grellen, empörten Geschrei auf globaler und nationaler Ebene und sagst: "Öhm, könnten wir nicht mal einen Moment innehalten und überlegen, wie uns der ganze Kram vielleicht NICHT um die Ohren fliegt?" Keine Chance!

Enkel Frage:
...

Antwort:
Soll ich Euch noch erzählen, wie die doitschen Grünen, wie Polen, Israel, die Türkei, Ungarn und der Iran in der Zeit agiert haben?

Enkel-Frage:
Ochnöö, lass mal.




(verändert via wiki commons)
Ja, dieses historische Dokument aus den frühen 1940ern hinterlässt Fragen.
Nein, ich weiß es auch nicht, ich überlege noch.



¹ In meiner Familie waren wir allerdings schmerzfrei: Die lebten alle gut & gerne in der Nazi-Zeit. Bombennächte, Flucht und Vertreibung, ja, das war blöd, aber das haben ja nicht die Nazis gemacht, das waren die Anderen. Nein, ich brauchte keine Enkel-Fragen zu stellen. Ich kannte schon die wesentlichen Antworten.   

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