Montag, 17. Februar 2025

Alt-Sein - eine ganz neue Erfahrung! Teil 5: Bilancia

 

Mein Problem mit dem Altwerden ist, dass ich es nicht bemerke. Jaaa, der morgendliche Blick in den Spiegel offenbart immer mehr Lachfalten (ein gutes Zeichen!) und schlaffes, ausgeleiertes Gewebe am Hals (ein schlechtes Zeichen!), und die Herzsache gerade könnte ein Indiz sein, muss aber nicht. 

Es ist immer noch ein Akt selbsterzwungener Kognition, mir klarzumachen WIE alt ich bin, und so richtig verinnerlicht habe ich's nicht wirklich.

Eine Methode, die auch schon in jüngeren Jahren funktioniert, ist, auf einem Gliedermaßstab, vulgo: Zollstock, einen Finger auf die Zahl des statistisch erwartbaren Alters zu legen und einen weiteren auf die Zahl des aktuellen Lebensalters. Instant memento mori. Allerdings wird damit eher Deine Restlaufzeit veranschaulicht.

Um die bereits zurückgelegte Strecke zu verdeutlichen, ist mir heute früh eine hinreißende neue Methode eingefallen, ich nenne sie nach dem italienischen Wort für Balkenwaage "Bilancia" und sie soll bitte nicht mit der buchhalterischen "Bilanz" verwechselt werden.¹ 

Wenn ich von dem Tage meiner Geburt bis heute rechne und wenn ich den resultierenden Zeitstrahl dann vom Tage meiner Geburt in die Vergangenheit richte, dann erhalte ich einen auch emotional fassbaren Eindruck meines Alters:


Ich lande, oh Scheiße, im Jahre 1899. Die Briten krallen sich den Sudan, die Amis unterwerfen die Philippinen, das Deutsche Reich klaut Spanien ein paar Inseln im Südpazifik, das Russische Reich klaut Finnland, die Buren versuchen erneut vergeblich, den Briten Südafrika zu klauen. Business as usual, allerdings nur, wenn man die zivilisatorischen Maßstäbe des 17. bis 19. Jahrhunderts anlegt.²


Aber es gab auch zukunftsweisende Aspekte: Ein französisches Elektro-Auto erreichte als erstes Landfahrzeug eine Geschwindigkeit über 100 km/h, die Sozis kämpfen für Arbeiterrechte im Reichstag, Marconi gelingt es, drahtlos über den Ärmelkanal zu funken, Otto Lilienthal ist schon seit drei Jahren tot usw.  (Das ist ein großes "usw.")


Wenn also in diesem Jahr 1899 jemand geboren wird und dann so alt wird, wie ich es heute bin, dann ist sie*er am Tage meiner Geburt so alt wie ich heute und könnte mich bei der Geburt begrüßen.

Was ich so irre finde: Betrachte ich den Zukunfts-Zeitpfeil von 1962, meinem Geburtsjahr, und heute, dann denke ich: "Ja, gut, da ist Zeit vergangen, aber sonst?" Projiziere ich die selbe Strecke in die Vergangenheit, also die Zeit zwischen 1899 und 1962, dann denke ich "Oh, Shyzze, das ist verdammt lang!"

Bin ich jetzt alt oder nicht? 

Keine Ahnung!



¹ Für eine Bilanz meines Lebens ist, hoffe ich, nach wie vor ein bisschen früh.

² Putin und Trump machen diese Allüren ja gerade wieder salonfähig. 








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