Freitag, 28. April 2017

Erfahrungswissen - gimme an "F" ...


Gesamtkonferenz. [*1] Nervenzerfetzende Langeweile. Intellektuelles Waterboarding: Du denkst, Du müsstest jeden Augenblick ersticken, zumindest einer gnädigen Ohnmacht anheimfallen, doch die perfide Kunst des Kerkermeisters dort vorne mit seiner Powerpoint-Präsentation lässt weder schnellen Tod noch todesnahe Agonie als Ausweg. Gäbe es ein Elixier des Lebens, eine flüssigkeit-gewordene vis vitalis, und wäre sie ein silberlachendes, diamantenglitzerndes und feenstaubhellklingelndes, honigsüßfarbenes, göttliches Ambrosia, so tropfte sie hier nur träge aber unerbittlich, unaufhaltsam und unwiderbringlich in einen großen Pfuhl voller schwarzem, stinkenden Schlick kollektiver Trübsinnigkeit ...

"Du kannst Erfahrungswissen nicht weitergeben!", stellt die mir in den Tischreihen gegenübersitzende Kollegin plötzlich nebensächlich flüsternd fest. Ah, da hatte wohl irgendein Referent - oder war's jemand aus dem Publikum? -  eine entsprechende Bemerkung fallen lassen. Ich blicke sie, aus dem Halbdämmer erwachend, fragend an. "Erfahrungswissen kann man nicht weitergeben.", bekräftigt sie. "Dann wär's nämlich kein Erfahrungswissen mehr." "Ahso ... ja, nee, hast Recht ...", antworte ich  lahm und sinke in meinen energiearmen Konferenzmodus zurück, eine Geistes- und Körperhaltung, die es analog den Galapagos-Schildkröten ermöglicht, über 200 Jahre alt zu werden.

Aber in mir arbeitet es. Was für ein Gedanke! Wie oft habe ich den Wunsch verspürt, wie viele untaugliche und durch und durch erfolglose Versuche habe ich schon unternommen, die sogenannten "jungen Leute" vor eben den Fehlern zu bewahren, derer ich schon so viele in meinem Leben gemacht habe und von denen ich denke, sie  müssten ja nicht allesamt von jeder Generation immer wieder auf's Neue zelebriert werden. Und was hat's gebracht? Genau so viel, wie, als ich jung war, das betuliche Geseiere der damaligen Alten gebracht hat, die mich, zumindest dem Prinzip nach, vor genau den Fehlern warnen wollten, die ich dann reihenweise erstmal selbst begehen musste, um aus ihnen zu lernen.

Man kann Erfahrungswissen nicht weitergeben. Nicht nur, weil es dann den Begriff sprachlogisch ad absurdum führte, sondern auch, weil einfach kein Schwein auf Dich hört.

Und vielleicht ist das auch nicht nur schlecht. Die "jungen Leute" müssen nämlich gar nicht vor "meinen" Fehlern gewarnt werden, sondern müssen mit den Fehlern ihrer eigenen Generation, ihrer eigenen Zeit auf die Fresse fallen, und das sind nun mal, zumindest teilweise, andere Fehler. [*2]

Eine etwas traurige Erkenntnis. Kann man denn gar nichts machen? Doch! Als erstes hören wir "Alten" mal mit dem Klugscheißen auf. Wenn ich mir anschaue, in was für einem Zustand wir die Welt an unsere NachfolgerInnen übergeben, dann wäre es der absolute Gipfel der Dumm-Dreistigkeit, wenn wir uns auch noch bemüßigt fühlten, aufgrund unserer großen Erfahrung  "gute Tipps" zu geben. Wir haben's einfach nur voll verkackt! Und wir haben bislang noch NICHTS draus gelernt, was man als brauchbare Information weitergeben könnte. Eine kleinlaute Entschuldigung wäre angebracht, vielleicht ergänzt durch die Bitte an die NachfolgerInnen, es doch irgendwie besser zu machen. Oder wenigstens anders. Denn jedes "anders" kann eigentlich nur besser sein, als das, was wir verzapft haben.

Und zweitens: Machen wir den "jungen Leuten" klar, dass Fehlermachen zum Geschäft, nein, zum Leben dazugehört. Machen wir sie stark, mit Fehlern und mit dem Scheitern zu leben. Hören wir auf damit, sie mit Erwartungen nach ständiger Top-Leistung dichtzuschmeißen und zu blockieren.

Ich bin zwar noch nicht ganz in dem Alter, in dem man abschließend bilanzieren sollte oder könnte, aber eines weiß ich: Wenn ich die gelungenen und die mißlungenen Dinge meines Lebens und Handelns gegenüberstelle, meine ethisch korrekten und meine ewig-beschämenden Verhaltensweisen abgleiche, meine brillianten Geistesblitze gegen meine hochnotpeinlichen Idiotien aufrechne, dann würde ich mal grob schätzen, dass ich, wenn ich in meiner Restlaufzeit keinen allzugroßen Mist mehr baue, vielleicht (!) auf eine "schwarze Null" komme.

Das ist ok! Das ist kein schlechtes Ergebnis. Aber es ist ganz sicher auch keine Lizenz, andere Menschen zu bewerten oder zu glauben "Erfahrungswissen" an sie weitergeben zu müssen oder dürfen.

Lasst Euch, Ihr "jungen Leute", von uns Alten nicht unter Druck setzen. Arbeitet an einer glücklichen Zukunft, und das heißt: Macht frohgemut Eure eigenen Fehler.





 (via nasa.gov)

Apollo 13, beschädigtes Service-Modul. Der zugrundeliegende Fehler wurde analysiert, und man hat daraus neues technisches Wissen gewonnen. Neues technisches Wissen wurde weitergegeben, kein "Erfahrungswissen".








[*1] Natürlich rede ich hier nicht von der Schule, an der ich tätig bin, sondern von einer ... äh ... Schule ... äh ... ganz weit weg. Autor und Ich-Erzähler haben rein gar nix miteinander zu tun.

[*2] Die großen Weltreligionen leiden doch allesamt darunter, auf einem Regelsystem zu basieren, das auf den gemachten Fehlern (und Lehren) der Bronzezeit beruht. Natürlich wollten die biblischen Altvorderen nur "Erfahrungswissen" weitergeben und meinten es zweifellos gut mit den "jungen Leuten". Aber wenn man sich bewusst macht, wie oft im Alten Testament zum Völkermord aufgerufen wird, dann erscheint es ganz gut, dass "die Jugend von heute" "einfach nicht zuhört".