Sonntag, 16. August 2020

Zur Semantik der "Wertschätzung"


Demnächst sollen wir Lehrer*innen in Niedersachsen, wie auch in anderen Bundesländern, wieder Regelunterricht abhalten. Das heißt, komplette Klassen, das heißt ohne Mindestabstände, dafür aber vielleicht oder auch nicht mit MNS. 

Mich beschäftigt die Frage, warum nicht wenigstens die Lehrer*innen vorher auf SARS-CoV2 getestet werden. Immerhin hüpfen wir demnächst von einer Schüler*innen-Gruppe in die nächste, müssen da zwar nicht singen, aber immerhin vernehmlich sprechen und entsprechend atmen und werden wir nolens volens engeren Kontakt zu den Kiddos haben, als unter den Bedingungen der Pandemie klug sein kann. Unser Job macht uns zu idealen Super-Spreadern.

Warum also kein verbindlicher Corona-Test für Lehrer*innen?

Nach langem Hin- und Herüberlegen und dem systematischen Ausschluss aller nicht schlüssigen Hypothesen bleibt nur eine Erklärung: Das ist endlich die Wert-Schätzung, die wir Lehrer*innen immer so naiv wie sehnsüchtig wünschen, für die wir immer wieder bereit sind, Leben, work-life-balance, Freizeit und den ganzen Rest zu opfern. 

Die Wert-Schätzung funktioniert so: Unser Arbeitgeber und oberster Dienstherr kalkuliert die Kosten dieses Tests, sagen wir 25,00 € pro Pädagogen-Nase. Bei etwa 76.118 Menschen käme da eine Summe von 1.902.950 € zusammen. Verglichen mit den vielhundertmilliarden Subventionseuros für die coronageschädigten Konzerne wäre das ein Nichtigstel, aber man spart ja, wo man kann, nicht wahr?

Dann überlegt unser Dienstherr, Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist ja sowas von 20. Jahrhundert, das  kann heutzutage niemand mehr ernsthaft wollen. Und es geht ja auch anders: Wenn man auf die Tests verzichtete und die Corona-Erkrankung sehr vieler Lehrer*innen billigend in Kauf nähme, dann müsste nicht das Kultusministerium die Test-Kosten tragen, sondern die Krankenkassen die Kosten der Behandlung! Und wenn ein paar von den stärker gefährdeten Alten auf der Strecke bleiben, ist das  ein erfreulicher Nebeneffekt, weil die ja sowieso nur der Digitalisierung im Weg stehen, diese tattrigen Ü50-Geronten-Zombies!

Wir müssen das Wort Wert-Schätzung also nur auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückführen, dann wird alles klarer. Wert-Schätzung heißt, ich schätze grob überschlägig, was der*die Untergebene meinem Laden bringt und was sie*er kostet. Wert-Schätzung heißt nicht, dass ich einen Wert besonders hoch einschätze.





(ebd.)





Freitag, 14. August 2020

Archetypen

Ein ulkiger Effekt bei der low&slow-Fliegerei ist, dass man Objekte stets aus einer Distanz betrachtet, die man mit minimal 150 m (Sicherheitsmindesthöhe) plus x veranschlagen kann. Man sieht die Objekt aus "höherer" Perspektive, aus ungewöhnlichem Winkel und in weiteren Kontexten. 

Heute habe ich dieses Schiff fotographiert und das Motiv bzw. seine ästhetische Umsetzung erinnern mich an naive Malerei. Der Detailreichtum ist hinreichend, um allgemein ein typisches zeitgenössisches Schiff zu erkennen, aber zu gering, um irgendeine individualisierende Besonderheit zu entdecken. 

Der Blick aus dem Low&Slow-Flugzeug enthüllt Archetypen.



Eigentlich wollte ich heute nach Dankern a.d. Ems oder an die Nordsee, aber von Westen zog so ein undefinierbares Kackwetter rein. Da bin ich dann letztlich doch wieder an meiner Rennstrecke entlang der Weser hängengeblieben.


Das Foto gefällt mir trotzdem ...






Mittwoch, 12. August 2020

Die ewige Sehnsucht nach Gewissheiten

 

Habe gerade in einer Kulturgeschichte über das Yong-Le-Enzyklopädie-Projekt gelesen. Der Ming-Kaiser Yong-Le beauftragt seine Gelehrten, das komplette Wissen der Zeit aufzuschreiben. 1408 liefern die 3.000 involvierten Schreiber tatsächlich über 11.000 Bände bzw. 40 Kubikmeter verschriftlichten Wissens. Was bei Wikipedia nicht erwähnt wird: Nach Übergabe des Elaborats verbietet der Kaiser alle weiteren Veränderungen an diesem Wissensstand. 

Ich verstehe den Mann. Der wollte intellektuell ein für alle Mal Ruhe haben. Und etwas, woran man sich festhalten kann. Dafür hat er ja auch richtig investiert. Ich meine: 3.000 Gelehrte ein paar Jahre lang zu bezahlen, zu ernähren usw., das kostet was. Das war dem Mann wichtig.

Ich habe mir aus demselben Motiv mal ein Buch über Lokomotiven gekauft, obwohl mich Lokomotiven überhaupt nicht interessieren.


(Quellenangabe lohnt nicht, 
das Werk wird zwischen den üblichen Verlagen 
als cash-cow herumgereicht.)

Entsprechende Billig-Bücher gibt es auch über Flugzeuge, Trecker, Schiffe, Handfeuerwaffen, Motorräder und so weiter: Wenig Text, viele Bilder, vor allem aber die Illusion, eine vollständige Faktensammlung zu einem Thema zu haben. Manche Bücher sind ziemlich dick und es ist mühsam und dauert eine Weile, die Inhalte leidlich zu erfassen. Aber wenn man das einmal geschafft hat, kann man sich in diesem Fachbereich als Experte fühlen. Mit Verachtung blicke ich nun auf jene hinab, die die Lokomotiven-Bauart "2C" nicht von "1'Eh3" oder gar "Bo'Bo'" unterscheiden können. 

Das Beste aber ist, dass sich bei der Technik historischer Lokomotiven nicht ständig was ändert *1. Oder bei historischen Treckern. Oder bei Panzern des II. Weltkriegs. Oder ... oder ... oder...

Schaut man sich an, wie viel Raum diese Art von "Sachbüchern" in den Buchhandlungen einnimmt, bekommt man einen Eindruck davon, wie sehr die Menschen sich nach Gewissheiten, und seien sie noch so unbedeutend, sehnen.





*1 Das trifft allerdings nur auf die Technik im allerengsten Sinne zu. Als unfein gilt es, einen der o.g. Lokomotiven-Historik-Experten zu fragen, mit welchen Lokomotiven-Typen die meisten KZ-Häftlinge in die Lager gekarrt wurden. Oder wie viele Zwangsarbeiter bei der Produktion der Baureihe 50 ("...ein sehr leistungsfähiges und wartungsarmes Modell ...") eingesetzt waren.


 




Samstag, 8. August 2020

Alltags-Toleranz

 

Jestern Jespräch mit dem jungen, gutaussehenden Stationsleiter eines Altenwohnheims jehabt. Er berichtet, dass die Alten seinem Schwulsein gegenüber völlig entspannt reagierten. Außerhalb des Heimes, und dort vor allem bei Jugendlichen und dort vor allem bei jenen mit Migrationshintergrund, gäbe es noch ziemlich blöde Reaktionen, wenn er zum Beispiel mit seinem Partner durch die Stadt ginge.  

Zwar nehme ich den ganz überwiegenden Teil unserer Jugendlichen als erfrischend tolerant und progressiv wahr, aber dass die 80+-Fraktion insgesamt noch lockerer drauf ist, sollte Anlass zum Nachdenken sein. Und bei den Migranten gibt es zweifellos auch so'ne und solche, aber in der Summe frage ich mich oft, warum da so ein riesiges Potential an völlig verklemmter Spießigkeit, Intoleranz und Macho-Gehabe vorherrscht. 



War sonst noch was? Ach ja (*1): 

Eigentlich fliege ich nicht barfuß, wenn ich "auf Strecke gehe", aber aus den zunächst geplanten paar touch-'n-gos ist gestern dann doch ein spontaner zweistündiger Überlandflug geworden, und es war heerrr-liech! Sonnenwarme, ruhige, seidige Streichel- Luft ... Erotische Metaphern wären vielleicht übertrieben, aber es fühlte sich gut an.  




Und die visuellen Eindrücke korrespondieren bekanntlich :


"Rückblick": Im Hintergrund Butjadingen und die Nordsee. Der feine, helle Kreisausschnitt ist eine Reflexion der Propellerspitzen. 







*1 Die Floskel habe ich bei "extra3" geklaut. Das ist bitte als ausdrückliches Kompliment zu verstehen.




Mittwoch, 5. August 2020

Eine Art Urlaub


Fühlt sich bisschen an, als gäbe es hier eine kleine Blogpause. Nicht, dass ich verreisen werde, aber einstweilen mich von anderen ästhetischen Genüssen attackieren, von and'ren Musen mich küssen lassen.



(verändert via wiki commons)












Samstag, 1. August 2020

Noch mehr triviales Fliege-Gelaber


Gestern traumhafter Flug nach Kührstedt und zurück, beste Grüße an die lieben Leute vor Ort.

Wenn Aviatoren "hands off" sagen, meinen sie im Regelfall nicht "Finger weg!", sondern das Verhalten des Flugzeugs, wenn man alle Bedienelemente loslässt. Gesunde Flugzeuge - wie meins - fliegen dann bei ruhiger Luft - wie gestern - einfach geradeaus weiter und man könnte, wären da nicht der Fahrtwind und die herrliche Aussicht, ungestört leichte Büroarbeiten erledigen. 



Aus Anstand, Gewohnheit und der guten Ordnunck halber hat man dann aber doch meistens eine Hand an der Steuerung, falls mal was is' ... und ...



... weil man sonst irgendwann anfängt, seltsame Sachen mit dem Fotoapparat auszuprobieren.












Wie weit kann ich mich rauslehnen?









Au ja, auch mal ein Selfie!

Aber was mich nach wie vor ganz besoffen macht, sind die Formen der Landschaft, besonders konturiert durch frühabendlichen Schattenwurf ... 

(gestern, A 27, nördlich Bremen)


... und immer wieder: Der teils mähliche, teils abrupte Übergang vom ländlichen in den städtischen Raum:


(gestern, bei Berne)

Ich bin zu faul für zeitaufwändige Video-Bearbeitung, deshalb gibt es hier immer nur Fotos, Schnappschüsse, um genau zu sein. Wer einen bewegtbebilderten Eindruck von low&slow wünscht, der/dem* empfehle ich die Videos von Golf Foxtrott 22, z.B. hier. 


Jaja, liebes selbstkritisches Gewissen, dieser Blog-Artikel ist ganz und gar trivial, d.h. frei von gesellschaftskritischen Ansätzen etc. etc., aber erstens habe ich Urlaub, zweitens ist das hier MEIN Blog, und ich kann ziemlich weitgehend machen, was ich will und drittens ist die Fliegerei wahrscheinlich auch deshalb so entspannend, weil sie Dir zwischendurch mal die Birne freipustet. 






Mittwoch, 29. Juli 2020

12.000 ziehen ab

Wer mitverfolgt, wie Trump die US-Bundespolizei zu seiner privaten politischen Schlägertruppe degradiert, kann eigentlich nur froh sein, dass jetzt 12.000 amerikanische Militärangehörige aus Deutschland abgezogen werden. Es bleiben vorläufig noch 23.000, aber ein guter Anfang ist immerhin gemacht ...






Mangels anderer Ferienlektüre lese ich gerade zum zweiten Mal Cixin Lius "Dunklen Wald", einen Zukunftsroman. Da taucht dann unter anderem die Vision einer gewaltigen Weltraumflotte auf, die organisatorisch in ein chinesisch-asiatisches, ein russisch-afrikanisches und ein nordamerikanisch-europäisches Kontingent aufgeteilt ist.

Kein Vorwurf an den Verfasser, der den Text 2008 erstveröffentlichte, aber beim diesmaligen Lesen dachte ich: "Nee, mein Lieber, da hat die Realität Deine Utopie bereits überholt. Kaum plausibel, dass US-Amerika in naher Zukunft noch irgendwes Verbündeter ist, jedenfalls nicht der Verbündete der demokratischen Staaten Europas."

Es ist eine spannende Erfahrung, sich mit Zukunftsvisionen auseinanderzusetzen. Man spürt ganz intuitiv, was stimmig ist und was nicht. Ganz sicher ist: Die US of A taugen nicht mal mehr literarisch-fiktiv für eine Rolle als good guy.






Und woran denken wir, wenn wir "Ami go home!" denken?









Aktuelle Ergänzung: Die russische Propaganda ist zwar unerträglich dumm und primitiv und eine Beleidigung des Intellekts, aber wenn sie Grund zur Freude hat, steht sie ganz offen dazu. Wer will's ihnen verdenken?















Samstag, 25. Juli 2020

Hoffnung = Wut = Hoffnung


Mehr oder weniger ungläubiges Erstaunen, vollständige Überraschung und die unterschwellig pikierte Frage nach dem Warum begleiten den aktuellen Anstieg der Corona-Fallzahlen.

Ich will mich sehr bemühen, hier nicht ins Doofen-Bashing zu verfallen, atme tief durch und fasse zusammen:

  1. SARS-CoV2 oder Covid19 oder Coronavirus ist ein pandemischer Virus, der zu Lungenentzündung und Lungenversagen führen kann. Man ertrinkt dann ziemlich jämmerlich über einen längeren Zeitraum an eigener Körperflüssigkeit. Das ist bislang 650.000 Menschen geschehen, und die täglichen Zahlen steigen. 
  2. "Pandemisch" bedeutet, der Virus agiert weltweit.
  3. Auf dem entsprechenden Dashboard der Johns-Hopkins-Universität kann man sehen, dass die weltweiten Fallzahlen permanent ansteigen, ganz unabhängig von der Tatsache, dass einige egomanische Polit-Clowns mittlerweile unverhohlen und aktiv versuchen, die Statistiken zu schönen.
  4. Jedes Individuum kann derzeit aktiv an der Eingrenzung des Virus mitarbeiten, v.a. durch häufiges, gründliches Händewaschen, Abstandhalten und das Tragen einer Mund-Nasen-Abdeckung.
  5. Wo diese Maßnahmen umgesetzt werden, kommen die Leute statistisch einigermaßen gut davon, wo nicht, da nicht. 

Ende. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Und wo mehr gesagt wird, sind im Ursprung ein paar machtgeile alte Männer [*1] am Werk, denen ihre krankhaft übersteigerte Egomanie wichtiger ist, als das Leben vieler Millionen Menschen.

Was mich vielmehr als der Virus selbst in Angst & Schrecken versetzt: Die obengenannten fünf Punkte sind in der Sache ziemlich eindeutig, ziemlich leicht verstehbar und ziemlich leicht in verändertes individuelles Verhalten umzusetzen.

  • Wie kommen Menschen auf die Idee, man könne stattdessen irgendwas davon diskutieren? Der Virus ist ein naturwissenschaftlich fassbares Phänomen. Er ignoriert persönliche "Meinungen", diktatorische Anweisungen und unterliegt nicht der demokratischen Willensbildung.
  • Wie kommen Menschen auf die Idee, ihr individuelles und schwarm-unintelligentes Dumm-Verhalten werde KEINE Konsequenzen haben - weder für sie persönlich noch für ihre soziale Gruppe noch für ihre Spezies?
  • Warum sind Menschen so überaus willig, sich von vernunftbasierten Lösungen ab- und irgendwelchen populistischen 3-Wort-Parolen zuzuwenden? 
  • Wenn machtgeile Scharlatane, wie Verschwörungstheoretiker, Plittikörr und Fundamentalisten of any color and any kind mehr Macht in den Köpfen der Massen haben als die Vernunft - wie sollen wir dann jemals existenzielle Probleme lösen, die noch komplexer, langfristiger und bedrohlicher sind als ein lebensnaher, d.h. potentiell tödlicher Virus?

Es gibt reichlich Indizien für die These, wir stünden aktuell in Sachen Klimawandel und Schutz einer für uns lebenswerten Umwelt an einem Scheideweg. Was wir nicht ganz zeitnah auf die Reihe kriegten, würde uns später umso schlimmer treffen. Das stimmt wohl. Aber - Achtung: Outing! - mein persönlicher Scheideweg ist immer öfter, die Hoffnung in die prinzipielle Vernunftfähigkeit meiner biologischen Art aufzugeben oder nicht.

In immer kürzeren Abständen muss ich mich ermahnen, nicht hoffnungs-los und also zum ausschließlich zynischen Drecksack zu werden. Das massenhaft idiotische Verhalten der Menschen angesichts der Corona-Pandemie macht's nicht eben leichter. Solange ich aber ein wütender Drecksack bin, heißt das, ich nähre noch ein Fünkchen Hoffnung.








Papst Gregor der Große, wiederentdeckt von Georg Schramm:

"Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen,
wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht."










[*1] Die Kategorie "machtgeile alte Männer" hat weder etwas mit dem biologischen Geschlecht noch mit dem Geburtsdatum zu tun. (vgl. Thatcher, Petry, Storch, M. LePen, AKK...)









Sonntag, 19. Juli 2020

Überblicke



Gestern, Wesermarsch: Die Straßenkreuzung ist mir aus der Perspektive der vor der Ampel wartenden Autofahrer*innen bekannt. Die ganz eigene Ästhetik der Straßenmarkierungen, die fließenden Formen der Verkehrsinseln und die sanften Rundungen der Kurven sehe und würdige ich aber nur aus der low&slow-Perspektive.

Das ergibt durchaus unterschiedliche Weltsichten: Als Autofahrer "biege ich rechts ab". Als müsste ich einen kantigen 90°-Winkel umsteuern. Was definitiv nicht der Fall ist.

Anderes Beispiel:


Man beachte die in der Landschaft verteilten Wolkenschatten. Stünde ich dort auf dem Boden, wäre meine Wahrnehmung "Die Sonne ist weg." Aus 200 m Höhe sieht die Sache ganz anders aus. Das kann man ja auch metaphorisch irgendwie total aufladen und so ... Vielleicht so in der Richtung:

"Wer immer nur auf dem Boden der Tatsachen steht,
hat definitiv keinen Überblick!"


Boah, das könnte von mir sein! Äh, Moment mal - das IST ja von mir! Frisch erfunden!






Donnerstag, 16. Juli 2020

Öko-Prostitution, bio-unfair


Heute im Reformhaus jewesen. Fast vor Fremdscham im Strahl jekotzt ...

Kundin: (18 % über Zimmer-Lautstärke) "Hach, was sind das denn für [Produkte X]?"
Inhaberin: "Das si..."
Kundin: "Ich hatte nämlich mal [Produkt X] aus Italien, da hat man gleich gemerkt ... (folgt einminütig-monologisierende inhaltsleere Ich-Erzählung)"
Inhaberin: "Ja, also d..."
Kundin: "Und was ist das hier?" (Zeigt auf ]Produkt Y].)
Inhaberin: "D..."
Kundin: "Davon nehme ich auch mal was mit!" (Greift zu, legt [Produkt Y] neben die Kasse, wo ich bereits zwei Flaschen mega-ökologischen Olivenöls zwecks Bezahlung abgestellt habe.)
Inhaberin: "G..."
Kundin: (wendet sich zu mir) "Und was ist das für Öl?"
Ich: "Äh. Öl?"
Kundin: (längst wieder abgewendet, Blick durch den Laden lichternd) "Hach, Ihr habt hier so viel, da kann man sich gar nicht entscheiden, laber, laber, laber ..." *1

Geschickt nutze ich ihren Redeakt, der Inhaberin zu signalisieren, dass ich bitte, bitte zahlen möchte, verlasse anschließend fluchtartig den Laden und schwöre mir, mich fürderhin nur noch über den eisekalt-entmenschten Interneteinzelhandel zu verköstigen, selten vielleicht auch mal in riesigen, neonlichtvergifteten, seelenlosen Supermärkten, wo devote Regal-Räum-Zombies ihre systemrelevante Arbeit verrichten und Jeden mit ihrem Todesblick vernichten, der mehr Kommunikation erheischen will als allerhöchstens ein minimalisiert-freundliches Nicken.

Was ich heute gelernt habe: Reformhäuser MÜSSEN teurer sein, als normale Läden. Das liegt zum geringeren Teil daran, dass diese ganzen Special-Öko-Produkte in der Herstellung ein bisschen teurer sein dürften als der Normalo-Kram, vor allem aber daran, dass die Mitarbeiter*innen neben ihrer normalen kaufmännischen Tätigkeit als Projektionsfläche für die rücksichtslos-offensive Selbstdarstellung der, ach, so wie-auch-immer-engagierten Klientel herhalten müssen. 

Ich bin sicher, dass die Reformhaus-Mitarbeiter*innen, hätte man sie gefragt, niemals zugestimmt hätten, aber seitens der Schicki-micki-Ökos wurde ihnen ein teuflischer Pakt oktroyiert: "Ich zahle Dir Mörder-Preise für Grundnahrungsmittel, dafür gibst Du mir Bühne und Publikum bei meinem lautstark-egomanischen Öko-white-washing!"

Hat man die Reformhaus-Mitarbeiter*innen beim Einstellungsgespräch eigentlich auf diesen Aspekt der Zwangs-Prostitution hingewiesen? 





(1907 via wiki commons)







*1 Ich bitte die zahlreichen Auslassungen und metasyntaktischen Variablen zu entschuldigen. Mein Gehör ist in funktioneller Hinsicht zwar überdurchschnittlich leistungsfähig, aber mein Gehirn schaltet bei sinnfreiem Schalldruck die Verarbeitung einfach ab. Das ist kein Witz, das hat mir ein HNO vor vielen Jahren bestätigt! Also: Ich weiß wirklich nicht, um welche Produkte X und Y es ging, was es mit den italienischen Sachen auf sich hatte und was statt "laber, laber, laber" gesagt wurde. Diese, meine Fähigkeit ist unterbewusst, effizient und oft, aber nicht in jedem Fall eine Erleichterung.