Mittwoch, 12. August 2020

Die ewige Sehnsucht nach Gewissheiten

 

Habe gerade in einer Kulturgeschichte über das Yong-Le-Enzyklopädie-Projekt gelesen. Der Ming-Kaiser Yong-Le beauftragt seine Gelehrten, das komplette Wissen der Zeit aufzuschreiben. 1408 liefern die 3.000 involvierten Schreiber tatsächlich über 11.000 Bände bzw. 40 Kubikmeter verschriftlichten Wissens. Was bei Wikipedia nicht erwähnt wird: Nach Übergabe des Elaborats verbietet der Kaiser alle weiteren Veränderungen an diesem Wissensstand. 

Ich verstehe den Mann. Der wollte intellektuell ein für alle Mal Ruhe haben. Und etwas, woran man sich festhalten kann. Dafür hat er ja auch richtig investiert. Ich meine: 3.000 Gelehrte ein paar Jahre lang zu bezahlen, zu ernähren usw., das kostet was. Das war dem Mann wichtig.

Ich habe mir aus demselben Motiv mal ein Buch über Lokomotiven gekauft, obwohl mich Lokomotiven überhaupt nicht interessieren.


(Quellenangabe lohnt nicht, 
das Werk wird zwischen den üblichen Verlagen 
als cash-cow herumgereicht.)

Entsprechende Billig-Bücher gibt es auch über Flugzeuge, Trecker, Schiffe, Handfeuerwaffen, Motorräder und so weiter: Wenig Text, viele Bilder, vor allem aber die Illusion, eine vollständige Faktensammlung zu einem Thema zu haben. Manche Bücher sind ziemlich dick und es ist mühsam und dauert eine Weile, die Inhalte leidlich zu erfassen. Aber wenn man das einmal geschafft hat, kann man sich in diesem Fachbereich als Experte fühlen. Mit Verachtung blicke ich nun auf jene hinab, die die Lokomotiven-Bauart "2C" nicht von "1'Eh3" oder gar "Bo'Bo'" unterscheiden können. 

Das Beste aber ist, dass sich bei der Technik historischer Lokomotiven nicht ständig was ändert *1. Oder bei historischen Treckern. Oder bei Panzern des II. Weltkriegs. Oder ... oder ... oder...

Schaut man sich an, wie viel Raum diese Art von "Sachbüchern" in den Buchhandlungen einnimmt, bekommt man einen Eindruck davon, wie sehr die Menschen sich nach Gewissheiten, und seien sie noch so unbedeutend, sehnen.





*1 Das trifft allerdings nur auf die Technik im allerengsten Sinne zu. Als unfein gilt es, einen der o.g. Lokomotiven-Historik-Experten zu fragen, mit welchen Lokomotiven-Typen die meisten KZ-Häftlinge in die Lager gekarrt wurden. Oder wie viele Zwangsarbeiter bei der Produktion der Baureihe 50 ("...ein sehr leistungsfähiges und wartungsarmes Modell ...") eingesetzt waren.


 




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