Es lassen sich drei Auffassungen von Schule unterscheiden, die die SchülerInnen mehr oder weniger offen oder versteckt "von Hause aus" erfahren:
1. Wissenserwerb ist in jedem Fall ein Wert an sich. Toll, dass es Schule gibt!
2. Schulbesuch ist gesetzliche Pflicht. Und deshalb gehste da hin!
3. Bildung ist totaler Schwachsinn, ich komme doch auch ohne klar, oder? Aber Du gehst da hin, weil sonst machen die Ämter wieder Ärger und außerdem biste dann 'n paar Stunden untergebracht.
Alle drei Positionen treten in allen sozialen Schichten [*1] auf, vielleicht nicht ganz gleichmäßig verteilt:
Position 1 findet sich natürlicherweise in bildungsnahen Milieus, was ja klar ist, weil die eben die entsprechenden Nützlichkeits-Erfahrungen mit Bildung gemacht haben und oft ihr Einkommen darüber bestreiten. Erstaunlich oft findet sich diese Position aber auch bei Leuten, die selbst, meist unfreiwillig, ganz bildungsfern leben - und gerade deshalb die Vorteile von "Wissen an sich" sehr deutlich zu spüren bekommen.
Position 2, die Mitläufer. Hübsch gesetzestreu. Sehr, sehr verbreitet. Akzeptabel, solange es im Umfeld der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stattfindet - aber wenn nicht? Weil aber die meisten Kinder mit dieser Auffassung im Rücken in die Schule kommen, darf man sich nicht wundern, wenn Schulen immer mehr zu Behörden im schlimmstmöglichen Sinne verkommen, statt Orte lebendigen, fröhlichen, neugierigen Wissenserwerbs zu sein.
Position 3: Häufige Haltung in eher bildungsfernen Milieus, was in Doitschland meist gleichbedeutend ist mit geringerem Einkommen. Aber unter diesen Punkt muss auch die Auffassung von der "Schule als Kinder-Aufbewahrungsanstalt" eingeordnet werden, wo wir dann einer schnell wachsenden Fallzahl von Wohlstands-Verwahrlosung begegnen, häufig kaschiert als total angesagtes, libertäres Erziehungsmodell nach dem Motto "Wenn mein Kind dies und das nicht will, dann muss es das auch nicht." Ich würde diese Position achten, wenn dahinter ein durchdachtes, schlüssiges anarchistisches Weltbild stünde. Oft findet man aber nur elterliche Bequemlichkeit und Desinteresse. [*2]
Warum dieses Raisonnement über die gesellschaftliche Denke zum Wert von Bildung? Weil in der öffentlichen Diskussion immer so getan wird, als sei die Institution Schule für "Chancengleichheit" verantwortlich. Ja, hackt's denn? Was glaubt Ihr denn, was Schule ausrichten kann, wenn den Kindern zu Hause ständig subkutan vermittelt wird, dass das doch sowieso alles Schwachsinn sei, was wir da machen?
Antwort: Nichts können wir dagegen tun. Gar nichts. Nada. in Worten: "Null", in Zahlen: "0". Und das ist auch gar nicht unsere Aufgabe. Es ist ein gewaltiger und sich ausbreitender Irrtum anzunehmen, Schule sei als Behörde für die Chancengleichheit ebenso verantwortlich, wie das Bauamt für Bau-Sachen, das Einwohnermeldeamt für Melde-Sachen und die Führerscheinstelle für Führerschein-Sachen.
Die Dienstleistung von Schule besteht nicht darin Chancengleichheit herzustellen, wie ein Autohersteller Autos herstellt, je mehr, desto besser. Unser Job ist, Bildung ANZUBIETEN, und zwar chancengleich, das heißt: unabhängig von Religions- und Parteizugehörigkeit, Ethnie, Elterneinkommen blablabla.
Und wenn Leute unser Angebot nicht wollen - va bene! Die MitarbeiterInnen des Bauamtes gehen ja auch nicht von sich aus los und überreden Leute, die eigentlich gar nicht wollen, zu irgendwelchen Bauanträgen. Oder käme jemand auf die Idee, die Arbeit der Führerscheinstelle zu kritisieren, weil es immer noch Leute ohne Führerschein gibt? Nein. Nur wenn jemand einen Führerschein MÖCHTE, dann werden die MitarbeiterInnen dieser Stelle freundlich und kompetent tätig, und zwar chancengleich.
Also: Reden wir über Chancengleichheit! Streiten wir engagiert und fair über Chancengleichheit! Ich bin ein Fan von Chancengleichheit. Ich kenne kaum ein politisch relevanteres Thema als die Chancengleichheit!
Und verteilen wir die Verantwortlichkeiten.
(Gerechtigkeit und Wahrheit, Dresden, Rathaus - via wiki commons)
Interessant, dass die Wahrheit nackt ist, die Gerechtigkeit verhüllt. Gibt es zwar die "nackte Wahrheit", aber gar keine "nackte Gerechtigkeit"? Dass sie zueinandergehören, wird hübsch deutlich.
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[*1] Wasimmer eine "soziale Schicht" ist. Zur Definitionsproblematik
siehe hier.
[*2] In der Kategorie "Bildung ist Schwachsinn!" gibt es aus PädagogInnen-Sicht ein paar ganz seltene Diamanten: SchülerInnen, die GEGEN den ausrücklichen Willen ihrer Eltern Wissen
bzw. Bildung erwerben und höherwertige Abschlüsse erreichen wollen. Was
für Dramen, was für Kämpfe, wie viel Leid und wie viel stilles
Heldentum da passieren - man müsste diesen Kiddos ein Denkmal setzen,
ein großes!