Mittwoch, 21. Oktober 2015

J.R.R. Tolkien und die lieben Kleinen


Lese gerade "The Letters of J.R.R. Tolkien". Interessant: Im November 1961 steht er im Briefwechsel mit seiner 90-jährigen Tante, unter anderem zum Thema Literatur für Kinder. Am 21.11.1961 schreibt J.R.R.:

"Sorge Dich nicht wegen der jungen Leute! Ich bin [als Schriftsteller] nicht sehr interessiert am 'Kind' als solchem [gemeint: als LeserInnen] [...] und habe nicht die Absicht, ihm / ihr auf halbem Wege entgegenzukommen oder ein Viertel. Das eine wie das andere wäre ein Fehler, entweder nutzlos (gegenüber den Doofen[sic!]) oder schädlich (gegenüber den Begabten). Ich habe nur einmal den Fehler gemacht, das zu versuchen, zu meinem ewigen Bedauern, und (ich bin froh das zu sagen) der Missbilligung der intelligenten Kinder: in einem frühen Teil des 'Hobbit'.
[...]
[Das Buch 'Der Herr der Ringe'] wurde nicht 'für Kinder' geschrieben oder für irgendeine spezielle Person, außer für mich selbst. [...] Ich glaube, Kinder lesen oder hören es sehr aufmerksam, sogar sehr kleine Kinder, und ich bin froh darüber, obwohl sie das meiste nicht verstehen können, und es ist auf jeden Fall voller Wörter, die sie wahrscheinlich nicht kennen. Ich hoffe, das erweitert ihr Vokabular ..." [Übers. von mir]

Huh, hah! Das klingt aber gar nicht politisch korrekt: Tolkien ein Kinderhasser, oder was? Oh nein! Was er propagiert ist nur, das anspruchsvolle ästhetische (literarische) Werk als solches stehen zu lassen und den Kiddos die Chance zu geben, sich intellektuell "nach der Decke zu strecken". Tolkien sagt ganz ausdrücklich nicht, seine Texte seien nichts für Kinder, im Gegenteil. Er weigert sich nur, Kinderkram zu schreiben. Begründung: Die Doofen würden auch das nicht kapieren, und die Schlauen hätten nix, um sich dran abzuarbeiten.

Und da sage ich: Jauchzet frohlocket! Recht hat er nämlich, der gute J.R.R.. Schaut Euch doch mal unsere kinder-verblödende Kultur an! Da sind nicht nur TV und Konsole. Wenn ich nur mal Revue passieren lasse, was für bescheuerte Inszenierungen von Theaterstücken speziell "für Jugendliche" ich (als begleitender Lehrer) über mich ergehen lassen musste! Rezente DramenschreiberInnen und RegisseurInnen, allesamt der Jugendlichkeit weit, weit entwachsen, zumindest körperlich und an Jahreszahl, hegen offenbar die irrwitzige Vorstellung, Jugendstücke müssten grundsätzlich grell, zerhackt, laut, aggressiv, stroboskopartig und durchgedreht sein. Ein intensives Gefühl muss GESCHRIEEN ausgedrückt werden, am besten zusammen mit einem Akt hirnverbrannter, sinnloser Gewalt und sonstigem LÄRM. Nur dann, so die Theatertheorie, kapieren Jugendliche, dass es da irgendein Problem gibt.

Just info: Jugendliche funktionieren so nicht, zum Glück. Wenn echte Jugendliche echte, d.h. schlimme Probleme haben, dann werden sie, im Gegenteil, meistens sehr still. Manchmal so still, dass wir wissen, dass da jetzt ganz dringend professionelle Hilfe ran muss. Und untereinander erkennen Jugendliche derartige Nicht-Signale noch tausend Mal sensibler. Schreien, Lärm und hirnverbranntes Verhalten sind dagegen ein gesundes Zeichen alterstypischer Hormonvergiftung.

Im Unterschied zu den Theaterleuten sehe ich die mittelfristigen Reaktionen der SchülerInnen auf diesen ewiggleichen inszenierten Blödsinn: Die Doofen, wie Tolkien sagt, haben tatsächlich nix kapiert, sich aber über den Klamauk und die durchgeknallten Theaterleute amüsiert und sind heilfroh, eine mindestens doppelstündige, praktische Alternative zum Wissenserwerb gehabt zu haben. Die Schlauen bleiben geistig unbefriedigt und irritiert zurück und verfallen mit jeder derartigen Aufführung mehr dem grundsätzlichen Irrtum, wahre Theaterkunst sei, wenn sich alle wie laute, gewaltaffine Idioten benähmen und dabei zwischendurch auch mal ein Lied singen, ob' s passt oder nicht.

Die Annahme, Jugendliche bräuchten "Jugendkultur", ist genau so bescheuert wie die Annahme, Babies bräuchten "Baby-Sprache". Jugendliche hatten und haben - jenseits aller Hypothesen der Erwachsenenwelt - immer schon ihre eigene Kultur, und jeder Versuch der Alten, sich da billig "ranzuschmeißen", sei es in der Ästhetik oder in der Sprache oder sonstwo, ist per se zum maximalen Fremdschämen lächerlich und peinlich und absolut kontraproduktiv.

Bitte, lasst uns das doch trennen! Lasst uns Erwachsene Erwachsenen-Ästhetik machen, in Erwachsenen-Sprache mit Erwachsenen-Erfahrung über Erwachsenen-Dinge reden. Ich verwette edle Körperteile: Die Kiddos werden früher oder später, wahrscheinlich früher, von sich aus neugierig. Und wenn sie teilnehmen wollen, wenn sie also, siehe Tolkiens Beispiel, in sehr jungen Jahren den HdR lesen oder hören wollen, dann sollen sie das dürfen.

Oder, wie Ivan Illich sagte:

"Das meiste Lernen resultiert nicht aus Unterricht. Es ist vielmehr das Resultat aus ungehinderter Teilnahme in relevanter Umgebung."

Übersetzen wir "Unterricht" mit "erwachsenengemachter Kulturvermittlung speziell für Kinder und Jugendliche", dann sind Illich und Tolkien sich da vollkommen einig. Zeigen wir den Kindern, wenn sie es denn sehen wollen und können, dass es in dieser Welt relevante Dinge gibt. Hört auf, Kinder mit Kinderkram zu belästigen!






(via wiki commons)








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