Warum drumherumreden? Lest, sofern noch nicht geschehen, Travens "Totenschiff".
Zwar wird der autobiographisch angehauchte Roman demnächst 100 Jahre alt, aber ich bekam ihn erst kürzlich in die Hand und habe nie eine klarere, feinfühligere und einleuchtendere Erklärung für das zwangsläufige Scheitern aller irgendwie linken und sonstigen Sozialutopien gelesen.
Im 41. Kapitel lesen wir: "Niemand versteht es so gut, feine und allerfeinste Rangunterschiede zu machen, wie der Arbeiter." Es folgen konkrete Beispiele aus dem hierarchischen Mikrokosmos des abgehalfterten, maroden Schiffes, auf dem der Protagonist arbeiten muss, dann aus dem Vergleich mit den Matrosen anderer, properer Schiffe, und schließlich aus dem Alltag der Fabrikarbeiter. Traven nimmt damit viel von Bourdieus "feinen Unterschieden" (1979) vorweg, und zertrümmert frühzeitig (1926!) die Illusion, es gäbe so etwas wie ein proletarisches Klassenbewusstsein oder gar eine proletarische Klassensolidarität.
Oder hier, im 34. Kapitel: "Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die alles haben, alles behalten können und das übrige noch dazukriegen." Muss ich nicht kommentieren, wir alle kennen genug Beispiele. Peinlich für uns Heutige ist allerdings die Frage, wann wir denn endlich mal anfangen wollen, diese Erkenntnis umzusetzen.
Noch mehr nachdenken muss man im 29. Kapitel, wo Traven gegen das Mitleid mit den Unterdrückten plädiert: "Mitleid mit Sklaven? Mitleid mit Soldaten und Soldatenkrüppeln? Haß gegen Tyrannen? Nein! Zuerst sind die Sklaven da, dann erscheint der Diktator auf der Bildfläche!" Großartig! So klar hat unsere Faschismus-Forschung das noch nicht auf den Punkt gebracht, wie B.T. fünf Jahre, bevor die Doitschen Hitler die Macht aufgedrängt haben Man sollte das flächendeckend in jenen Ländern plakatieren, in denen die Menschen gerade mehrheitlich lustvoll daran arbeiten, ihre freiheitliche Demokratie wiederabzuschaffen.
26. Kapitel: "Der Glaube versetzt Berge, aber der Unglaube zerbricht Sklavenketten." Gut, der ist nicht wirklich neu, aber ich bin ganz besoffen davon, was Traven bereits im Jahre 1926 gedacht hat. Der Mann war kein gelernter Philosoph, sondern Metallfacharbeiter aus Schwiebus in Westpreussen.
Am Anfang dieses Kapitels sind wir dann wieder sowas von 2023: "Da hängen sie in jedes Büro und in jeden Fabriksaal ein Plakat mit der Aufforderung: 'Do more!' oder 'Tu mehr!' Die Erklärung wird einem kostenfrei gegeben auf einem Handzettel, der einem auf den Arbeitsplatz gelegt wird: 'Tu mehr! Denn wenn du heute mehr tust, als man heute von dir fordert, wenn du heute mehr arbeitest, als wofür du bezahlt wirst, dann wird man dir auch eines Tages das bezahlen, was du mehr tust.'" Wie absolut treffend beschreibt der Verfasser hier unsere immer noch aktuelle Mentalität von Selbst-Optimierung und Selbstausbeutung! Wie sehr klingt mir das weinerliche Gegreine der Arbeitgeber aus dem Jahr 2022 in den Ohren, als sie die zunehmende "Silent-Quitter-Mentalität" vieler Mitarbeitender bejammerten und das "Do more" so medienwirksam einfordern.
Kapitel 16: "In Amerika werden die Ketzer nicht besser behandelt als in Spanien. Das Traurige, das Beklagenswerte, aber echt Menschliche ist, daß diejenigen, die gestern noch selber die Verfolgten waren, heute die bestialischsten Verfolger sind. Und unter den bestialischen Verfolgern heute auch schon die Kommunisten. Die Nachdränger, die Weiterdränger werden immer verfolgt. Der Mann, der vor fünf Jahren in Amerika einwanderte (...) ist heute der Mann, der am wildesten schreit: 'Macht die Grenzen fest zu, laßt niemanden mehr herein!'" Ist das cool!? Über die Richtigkeit und die Anwendbarkeit dieser Zeilen von 1926 muss ich hier kein Wort verlieren, ...
... aber mein Erstaunen über und meine Bewunderung für B. Traven aka Otto Feige aka Ret Marut aka v.a.m. musste ich einfach mal loswerden.
Warum ich der Textchronologie umgekehrt folge? Weil. Lest den Text, verflixt nochmal, da sind noch haufenweise ähnlich genialer Stellen drin.
Übrigens: Travens Biographie ist auch absolut lesenswert!