Sonntag, 18. Oktober 2020

Studie zum Gruppenverhalten


Gestern, südlich Zwischenahn, 200 m Höhe. Kurs etwa SW. Eine Horde Graugänse, etwa 20 Tiere in sauberer V-Formation, hält von rechts hinten kommend in gleicher Höhe und in spitzem Winkel auf mich zu, d.h. unsere Kurse nähern sich immer weiter an, und Graugänse haben eine etwas höhere Airspeed als mein low&slow-Flugzeug ... 


Ich kürze mal die ganze Dramatik raus und stelle fest: Als der Abstand auf etwa 25 bis 30 Meter * geschrumpft war, wurde mir klar, dass die blöden Viecher sturheil Kurs und Höhe beibehalten würden und dass es an mir wäre, den Kurs zu ändern, sollte eine Kollision vermieden werden.

Übliche Floskel könnte sein: "Da fällt Dir nix mehr zu ein...!", aber mir fällt eine Menge dazu ein:

  1. Ich könnte mich mal wieder über mich selbst totlachen, da ich ganz selbstverständlich angenommen habe, dass ich als Mensch, als Krone der Schöpfung und Lenker eines laut-lärmenden Technik-Vehikels ein gottgegebenes Vorflugrecht hätte. ** 
  2. Ich frage mich, ob eine einzelfliegende Gans genauso stumpf, dreist und rücksichtslos reagiert hätte, wie der Schwarm. Wir kennen das: Der vereinzelte Radfahrer, Fußgänger, Boßel-Sportler, Corona-Leugner und Nazi weiß genau, wo er in der Nahrungskette steht und agiert entsprechend vorsichtig. Rotten sie sich aber zu einer größeren Gruppe zusammen, wird's für die umgebende Öffentlichkeit gefährlich. Oder, wie Schopenhauer konstatierte: "Der Schwachsinn ist beim Individuum die Ausnahme, in der Gruppe die Regel." Ganz ernsthaft müsste die Verhaltensbiologie hier vergleichend untersuchen. 
  3. Wenn ich mir den sehr subjektiven Eindruck erlauben darf: Der Schwarm war weder dummdreist noch gruppen-arrogant, sondern in tiefer Trance oder Meditation total weggetreten. Die Tiere lautierten auch nicht, soweit ich das beurteilen konnte. Das ist natürlich nur eine gewagte Hypothese, aber für Langstreckenflieger wie Gänse wäre es eine angemessene Geisteshaltung. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, ein paar tausend Kilometer weit zu fliegen und dabei permanent bewusst zu denken "Flügel rauf, Flügel runter, Scheiß-Gegenwind!, Flügel rauf, Flügel runter, Flügel rauf, Flügel runter ... äh, der Vordermann hat wieder gepupst, die Drecksau, puuh, was hat der denn gefressen, mannmannmann .. Flügel rauf, Flügel runter, Flügel rauf, Flügel runter ..."
  4. Eigentlich finde ich diese Begegnung mit dem Schwarm unglaublich schön und erfreulich und ein bisschen paradiesisch. Zahllose ähnliche Erfahrungen kennen alle Flieger*innen, wenn sie nicht gerade mit Echo-Klasse aufwärts unterwegs sind: Das Vogelvieh hat da oben keine Angst vor uns, nicht mal, wenn wir mit einem knatternden Zweitakter und 8,40 m Spannweite unterwegs sind. 
  5. Wenn wir uns da also angstfrei begegnen können, dann stellt sich natürlich auch die Frage, warum ein Schwarm von 20 Individuen einem einzelnen Flieger ausweichen sollte und nicht umgekehrt. Ich meine, das gebietet, wenn schon nicht die Höflichkeit, so doch die schlichte Logik, oder?




Ja, das Bild ist so ähnlich, wie das von gestern, aber ich finde das Kontrast-Motiv einfach spannend , und eine Reflexion des Sonnenlichts über so eine Distanz ist doch auch beeindruckend.
Schade, dass ich von der Gänse-Begegnung kein Foto geschafft habe.






* Ich habe mich bei dieser Entfernungsangabe sehr misstrauisch selbst geprüft und bin mir ziemlich sicher, dass die Schätzung fehlerbereinigt ist. 

** Auszug aus dem Luftrecht: "Überholt wird rechts. (...) Das überholende Luftfahrzeug hat aber in jedem Fall den Flugweg des anderen zu meiden." SERA.32




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