Bei den meisten Menschen ist inzwischen angekommen, dass eine Aussage wie "Kolumbus entdeckte Amerika" ein dümmlich-dreister Lapsus ist, der nur dann Sinn ergibt, wenn man den geistigen Horizont spätmittelalterlicher Westeuropäer als Maß aller Dinge nimmt. Die Ureinwohner der "entdeckten" Kontinente hätten ob so viel kranker Egomanie wohl nur ein mitleidiges Lächeln übrig, wenn sie denn nach ihrer "Entdeckung" noch viel zu lächeln gehabt hätten.
An diesen Sachverhalt fühlte ich mich erinnert, als ich über den "Sensationsfund. Ein kompletter Ichthyosaurier" im Teaser des Artikels las: "180 Millionen Jahre war es unentdeckt." 180 Millionen Jahre sind wahrlich ein beeindruckender Zeitraum. Man bedenke, dass der Asteroideneinschlag, der den Anfang vom Ende der Dinosaurier einläutete, erst 66 Millionen Jahre her ist. Da schlummerte der Ichthyosaurier bereits seit 114 Millionen Jahren in seiner letzten Ruhestätte - unentdeckt, wie wir heute lesen.
Die Leistung der britischen Arbeiter, die das Fossil dann entdeckten, wird durch diese 180 Millionen Jahre natürlich besonders sensationell. Immerhin hätte seit 180 Millionen Jahren jeder Dödel diese Entdeckung machen können, aber nein, das arme Tier musst so lange warten ...
An dieser Stelle müssen wir offenbar erstmal klären, was "entdecken" eigentlich bedeutet. Wäre es eine "Entdeckung", wenn ein anderer Dino am Fossil geschnüffelt hätte? Oder ein frühes Insekt? Oder eines der ersten Säugetiere? Oder ein Neanderthaler? Klingt nicht plausibel.
Anscheinend meinen wir mit "entdecken", es wahrnehmen und diese Wahrnehmung für den Rest der Menschheit zugänglich zu kommunizieren und zu dokumentieren. Die kulturellen Voraussetzungen dafür haben wir allerdings erst seit vielleicht 4.000 Jahren - wenn wir sehr, sehr optimistische Annahmen zugrundelegen.
Demnach müsste der Teaser des obengenannten Artikels lauten: "180 Millionen Jahre lag das Fossil rum, und seit 4.000 Jahren hätten wir es entdecken können, aber niemand hat's gefunden."
Warum ich solang darüber räsoniere? Weil ich vermute, dass die Formulierung "180 Millionen Jahre war es unentdeckt" in temporaler Hinsicht genau derselbe Ego-Zentrismus ist, wie "Kolumbus entdeckte Amerika" in kultureller und geographischer Dimension. Wir vereinnahmen 180 Millionen Jahre als potentielles menschliches Betätigungsfeld, eigentlich die gesamte Ewigkeit vor uns und alle zukünftigen Ewigkeiten.
Mehr Bescheidenheit stünde uns gut an. Machen wir uns bewusst, dass unsere Art mickrige 30-40.000 Jahre alt ist und dass unsere biologische Zukunft keinesfalls nochmal so lange dauern wird, wenn wir so weitermachen wie bisher.