Donnerstag, 13. April 2023

Acta est fabula, plaudite.

 

Ich nehme interessiert zur Kenntnis, dass der Pazifismus der 1980er Jahre nicht mehr zum Markenkern der Grünen gehören soll. Nun gut, die Grünen sind, wie die Linken, für mich nicht mehr wählbar, da ich kaum zu definieren wüsste, was für einer Politik ich da meine Stimme gäbe. Falls jemand eine Partei kennt, die fest auf dem Boden der FDGO stehend glaubwürdige, antikapitalistische Ökopax-Politik betreibt, lasst es mich wissen. 

Was ich in dem Zusammenhang auch interessant fand, war eine mir bislang unbekannte rhetorische Figur, naja, eigentlich ist's nur eine Floskel, die mir neulich bei einer Online-Diskussion zum Thema "Immer mehr Waffen an die Ukraine" entgegnet wurde und die da lautete, man dürfe den "Ukraine-Krieg nicht durch die Brille der 1980er Jahre betrachten". 

Sehr schön! Diese Konstruktion hat mehrere Vorteile:

  1. Man setzt Andersdenkende herab, indem man unterstellt, es fehle ihnen an aktuellem Durchblick (den man für sich selbst so selbstverständlich beansprucht, dass es gar nicht mehr erwähnt werden muss).
  2. Man spart sich jeden Hauch von ernsthafter inhaltlicher Auseinandersetzung.
  3. Man weist sich selbst das Recht zur Meta-Ebene zu, nach dem Motto "Ich bin der große Checker und kann Deine Meinung - d.h.: Deine Irrtümer - in große sozio-historische Zusammenhänge einordnen, Du intellektueller Wurm!".  
  4. Man kann diese Konstruktion auf jeden denkbaren Sachverhalt anwenden:

  • Man darf den heutigen Antisemitismus nicht immer durch die Brille der Wannsee-Konferenz betrachten.
  • Man darf den entfesselten Kapitalismus von heute nicht immer durch die Brille des Kommunistischen Manifests betrachten.
  • Man darf die anthropogene Klimakatastrophe nicht durch die Brille der ausgestorbenen Dinosaurier sehen. ¹
  • Man darf die Wiederauferstehung des Faschismus' heute nicht durch die Brille der 1920er/30er Jahre sehen. ²
  • Man darf einen Atomkrieg heute nicht immer durch die Brille von Hiroshima und Nagasaki sehen.
  • Man darf Trump, Erdogan, Putin, Orban, Kim Yong Un nicht durch die Brille von Mussolini und Hitler sehen. 
  • - etc.

Kurz: Nur weil's früher schon scheiße war, ist das kein Grund, es nicht zu wiederholen.

Nur ewig-gestrige Boomer glauben, man müsse aus der Geschichte lernen.



(Bundesarchiv Bild 183-R69919, KZ Auschwitz, Brillen.jpg - via wiki commons)

Man darf Konzentrationslager nicht immer nur durch die Brillen der Insassen sehen.
(Sonst machen Diktaturen irgendwann gar keinen Spaß mehr.)




¹ Ok, diese Metapher ist ziemlich schräg ...  


² Das haben die regierenden italienischen Faschisten inhaltlich tatsächlich gesagt. 

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