Samstag, 4. April 2020

Schöne neue Lernwelt


Soso, der Polit-Sprech bereitet gerade die Spatzen darauf vor, künftig von den Dächern zu pfeifen, was aufmerksamen Beobachter*innen ohnehin ahnbar ist: Am 20.04. wird NICHT planetenweit der Corona-Virus besiegt und also der Alltag wieder ausgerufen werden.

Mit Amüsement nehmen wir zur Kenntnis, was die doitschen Medien für diesen Fall als Pädagogik-Ersatzbefriedigung hypen: Besinnungslose Digitalisierung. Die entsprechenden Nachrichten-Schnipsel, selten länger als 60 Sekunden, folgen schon seit Wochen etwa folgender Dramaturgie:

  1. Engagierter Junglehrer (ja, immer nur Männer!) sitzt im Home-Office in einer Video-Konferenz mit seiner ganzen Klasse, 
  2. die seltsamerweise nur aus 8 bis 12 Schüler*innen zu bestehen scheint. 
  3. Die Übertragung zu den einzelnen Kiddos ruckelt ein bisschen, aber alle sind freudig erregt. 
  4. Besagter Junglehrer hat den Schüler*innen digitale Aufgaben zukommen lassen, 
  5. die diese zu Hause mit Smartphone, Laptop oder wasauchimmer lösen und zurückschicken. 
  6. Zwischenschnitt: Der Lehrer äußert sich im Skype-Interview orgasmisch über die Wahnsinns-Lernerfolge, die er erzielt.
  7. Der Lehrer tippt umfangreiche individuelle Feedbacks, grundsätzlich des Inhaltes, dass die/der Schüler*in ausgezeichnete, wundervolle Fleißarbeit geleistet habe. 
  8. Der freudig-erregte böberschte Dienstherr oder irgendein*e beliebige*r Plittikörr*in, ist im Interview des Lobes voll und schwört heilige Eide, man werde mit Hochdruck daran arbeiten, derartige Lösungen zu pushen, bla bla bla ...

Ich fühle mich so alt und ganz schrecklich "old-school", aber wenn ich diese strahlend-optimistischen Gigs sehe, befallen mich Fragen, lästig und juckend und ekelhaft, wie ekle Räude. Ich hasse mich selbst dafür, aber der Zweifel nässt aus mir heraus.


  • Wieso hat der nur so wenig Schüler*innen? 
  • Wie groß muss ein Monitor sein, damit alle, Lehrer und Schüler, eine übliche Klassenstärke von, sagen wir, 28 Schüler*innen sinnvoll fenstern können? 
  • Laut Landesamt für Statistik hatte das Land Niedersachsen im Schuljahr 2017/18 839.681 Schüler*innen. Selbst wenn die nicht alle gleichzeitig video-unterrichtet werden: Reichen unsere Übertragungskapazitäten? Gibt es in anderen Bundesländern eigentlich auch Schüler*innen? Du liebe Güte, ja, insgesamt 8,33 Millionen in 2019! Viel Erfolg mit den Video-Konferenzen!
  • Was, wenn die Eltern keine Flat-Rate haben? 
  • Was, wenn im Elternhaus überhaupt keine Infrastruktur für sowas vorhanden ist? Ein wenig technisches Know-how? Rattenschnelles Internet? Desktop-Rechner für jedes Kind und ungestörte Arbeitsecken zum Beispiel?
  • Wer beurteilt den Arbeitsaufwand individueller schriftlicher Feedbacks, und wir sprechen, bitteschön, von pädagogisch wertvollen Feedbacks? Aus meiner Erfahrung: Gute Arbeiten sind schnell zurückgemeldet: "Super!", "Gut gemacht", "Weiter so!" etc. etc. Bei problematischen Ergebnissen reicht aber leider nicht "Schwachsinn!", "Idiot!", "Nochmal!". Erklär' mal einem doofen, pardon: fachlich herausgeforderten, Schüler, der eine Aufgabe von vorn bis hinten verkackt und sichtlich keinen Bock darauf hat, was er falsch gemacht hat. Schriftlich. Kleinschrittig. Von Grund auf. Ach, übrigens: Du hast in einer Klasse nicht nur einen doofen Schüler, sondern, sagen wir, fünf. Und Du hast vier, fünf Lerngruppen. Viel Spaß!


Ich will ja nicht nur rummaulen. Konstruktiv: Lasst uns Trainingshefte zum Selberlernen anschaffen. Ich meine Bücher. Aus Papier. Die gibt es bereits massenhaft. Für jedes Fach und jede Jahrgangsstufe. Selbst das schlechteste Trainingsheft ist besser als eine Technologie, die technisch und ablauforganisatorisch nicht reif ist. Und dann lasst uns auf einfachen, erprobten,  datenschutzkonformen Plattformen kommunizieren, z.B. Foren und Chats, um gemeinsam, im Klassenverband, über die Aufgaben sprechen. 

Das Gemeinsame ist das wichtigste am Unterricht!

(verändert via wiki commons)

Apropos "Bücher" und "aus Papier": Wenn darüber nachgedacht wird, demnächst wieder Läden zu öffnen, dann bitteschön an erster Stelle die Buchläden! Es gibt derzeit tausende von Ratschlägen, wie man ausgangsbeschränkte Zeiten überstehen kann. Lest Bücher, verdammt nochmal! Bücher sind Lebensmittel.









 

3 Kommentare:

  1. Danke!
    Ich möchte jedes Wort unterschreiben.
    Vor ein paar Tagen las ich irgendwo einen Zeitungsartikel mit der Kernaussage: "Ist doch alles ganz gut gelaufen:". Deshalb formuliere ich seit Freitagmorgen an einem Brief herum, der sich an die Lehrer des Kindes richten wird. Die Wahrheit ist nämlich: kaum etwas lief gut. Die letzten Wochen waren purer Stress und das, obwohl wir zu den privilegierten Familien gehören, die dem Kind von jetzt auf gleich einen eigenen Arbeitsplatz und jede Unterstützung bieten konnten. Die Hausaufgaben enthielten zig verschiedene Arbeitsblätter im Anhang, Links zu Filmen, die Bitte, sich einen QR-Code-Scanner runter zu laden, Zugangsdaten für Online-Schulbücher und die wildesten, pädagogisch bestimmt total wertvollen, im Grunde aber nur zeitfressenden, Aufgabenstellungen.
    Die eigentlichen Schulbücher wurden nur selten genutzt.
    Ich weiß auch nicht, warum die Schulen in zwei Wochen wieder öffnen sollten, es hat sich da draußen doch nichts geändert aber ich weiß, dass ich diesen blinden Aktionismus mancher Lehrer auf Kosten der Kinder, nicht mehr mitmachen werde. Solange er hier Zuhause ist, erhebe ich mich zur Fachfrau - für mein Kind.
    Pure Verzweiflungstat.

    Ganz liebe Grüße aus dem Pott
    und bleiben Sie gesund!
    Mari

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  2. Danke für den Kommentar, Mari!
    Ich entschuldige mich im Namen aller Lehrer für den "blinden Aktionismus", aber uns wurde und wird ständig suggeriert, dass Ihr Eltern und die Kiddos total geil auf alles Digitale seid. Jede*r Lehrer*in, die* sich traut, darauf hinzuweisen, dass das alles Methoden sind, deren Sinn für den Lernerfolg unbewiesen, teils fragwürdig ist (wir nannten das mal Evaluation, aber das gipps nicht mehr), gilt schnell als antiquiert und dem Neuen nicht aufgeschlossen.

    Wenn also weder Eltern noch Lehrer wirklich heiß auf den Scheiß sind, wer dann?

    Fragen wir doch einfach mal, wer am meisten Profit damit macht, schulisches Lernen von einem menschlichen zu einem technik-basierten Vorgang zu machen ...

    LG

    Mare

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  3. n'Abend, Mare.

    Ich dachte immer, weder Lehrer noch Eltern wollen, dass die Kinder zu lange vor dem Computer hocken und konnte gar nicht fassen, wie vehement in den letzten Wochen dagegen gearbeitet wurde. Was mich aber am meisten ärgert, ist das Bild, das viele Menschen (denn das betrifft nicht nur Lehrer) von den Kindern haben. Ich habe in Gesprächen dauernd Floskeln gehört, wie: "Die saugen das doch mit der Muttermilch auf." oder "Da wachsen die mit auf.". Schließlich konnte das Kind schon Apps auf Tablet runterladen, da konnte der noch nicht einen einzigen Satz fehlerfrei schreiben. Dabei wird aber nicht beachtet, dass das absichtlich "kinderleicht" ist. Da muss man garnix für können oder verstehen. Textverarbeitung, Datenverwaltung und strukturiertes Arbeiten damit, muss man jedoch immer noch, ganz altmodisch, erlernen. Ob heute am Pc oder früher an der Schreibmaschine. Weil die ja alle "so gut mit Computern können", wird das einfach vorausgesetzt. Aber das sind Kinder!
    Was die Abschaffung des schulischen Lernens hier in Duisburg angeht...
    Wenn ich mir den Zustand der Schulen angucke, kann ich verstehen, dass man die Kinder am liebsten ins Homeoffice schicken und die Abrissbirne schwingen würde. Da wurde schon seit Ewigkeiten kein Geld mehr reingesteckt. Erinnert mich immer ein bisschen an die dubiosen Machenschaften Duisburger Städteplaner. (http://bruckhausen.blogspot.com/)
    Schönen Wochenstart!
    Mari

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