Montag, 5. November 2018

"Anstand ist anstrengend für Viele." (H. Rether)


Im aktuellen Programm "liebe 2018" überrascht Hagen Rether mit der Aussage, Fremdenfeindlichkeit sei etwas ganz Natürliches, um anschließend zu erläutern, bei Menschen müsse allerdings nach der spontanen, reptilienhirn-gesteuerten Reaktion doch, bitteschön, der Neokortex die Kontrolle übernehmen und eine kulturgesteuerte, zivilisierte, der Menschen würdige Reaktion liefern.

Rethers Klugheit, Leichtigkeit und Eloquenz lassen mich immer wieder verzagen, eigene Gedanken zu verschriftlichen, aber dieser lässt mich nicht los.


(verändert via wiki commons)

Entwicklungsgeschichtlich ist der Neokortex unser jüngstes, modernstes Hirnareal, vereinfacht gesagt: der Ort der Kognition, wogegen der Hirnstamm viel urtümlichere Bereiche enthält und  anstrengungslos und weitgehend unbemerkt Atmung, Verdauung usw. steuert. Reptilien, wie das von Rether erwähnte Krokodil, kommen prima mit einem Gehirn zurecht, dass lediglich unserem Hirnstamm funktionsmorphologisch ähnelt. Des Homo sapiens' überdimensionierter Neokortex ist kein Grund zur Arroganz, sondern einfach eine Angepasstheit an eine bestimmte ökologische Nische, genauso wie des Krokodils Gebiss und Muskulatur.

Allerdings spricht viel für Rethers These, dass neokortikale Aktivität für viele Menschen anstrengend und daher unangenehm ist, während wir die Aktivität des Hirnstamms gar nicht oder nur neutral oder sogar positiv wahrnehmen. Beweis: Über den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik oder die "Verantwortung und Schuld der Deutschen im Jahr 2018" nachzudenken, erfordert Muße und Konzentration. Rülpsen und Pupsen können wir jederzeit, mitunter gar parallel. *

Rassismus, Fundamentalismus, Populismus funktionieren deshalb so gut, weil sie den RezipientInnen das Angebot machen, auf neokortikale Aktivität zu verzichten und sich nur des Reptilienhirns zu bedienen. Inhaltliche Analogien zu früheren Entwicklungsstadien unserer Art stützen diese Hypothese:

1. Der Hirnstamm steuert qua Reflex und Instinkt. Im Gegensatz zur Kognition sind Reflex und Instinkt aber "hard-coded", wie Programmierer sagen würden. Der Kniesehnenreflex ist eine reine Nervenverschaltung, die unser Hirn nicht mal peripher berührt. Ist mein Weltbild aber "hard-coded", dann bedeutet jede Veränderung Gefahr, da eine Neuanpassung ausschließlich biologisch erfolgen kann: Das Alte muss und wird untergehen. Erst durch zufällige Mutationen entstehen vielleicht Angepasstheiten einzelner Individuen künftiger Generationen, die positiv selegiert werden, und so kann eventuell eine neue Verschaltung entstehen und sich durchsetzen (es sei denn, die ganze Sache dauert zu lange und die Art stirbt vorher aus).

Daher ist doch klar, dass Populisten immer religiös fundamentalistisch, rassistisch, xenophob und homophob sind, tradierte Gewissheiten, festgestampfte Rituale und Dogmen lieben und soziale Strukturen durch ein faschistoides Führerprinzip betoniert sehen wollen - und zwar immer in exakt diesem Gesamtpaket!** Jeder Ansatz von Veränderung, von Flexibilität, jeder Hauch eines Zweifels am Bestehenden ist reale, nicht nur eingebildete Bedrohung. Und je tiefer man in diese Pampe hineinrutscht, desto dramatischer wirkt die allerkleinste Abweichung. Ein sich-selbst-verstärkender Prozess.

2. Der Hirnstamm entstand in einer Phase der Entwicklungsgeschichte, in der jedes Individuum permanent selbst verzweifelt nach der nächsten Mahlzeit suchte und gleichzeitig - ebenso verzweifelt - vermeiden musste, selbst eine Mahlzeit zu werden. Die Begriffe "Gewaltaffinität", "Gier", "Opportunismus" und "extremer Egozentrismus" beschreiben folglich nur ansatzweise die psychische und ethische Disposition dieser Kreaturen, und diese Disposition war evolutionstheoretisch betrachtet ebenfalls selbst-stabilisierend.

Manche EvolutionsforscherInnen denken, dass die entgegengesetzte Fähigkeit, nämlich solidarisch,  sozial und mitfühlend zu agieren, die Säugetiere im Allgemeinen und die Menschen im Besonderen dahin katapultiert haben, wo sie jetzt stehen. Diese Fähigkeit ist aber brandneu und bedarf eines Neokortex', der die Komplexitätsexplosion bei der Kosten-Nutzen-Rechnung für soziale Bindungen in Großgruppen überhaupt berechnen kann.

Aber Evolution kann eben nicht alte, unaktuell gewordene Teile, schwupps, gegen neue austauschen. Und so geistert unser völlig veralteter, aber in Teilen immer noch notwendiger und, ach, so bequemer Hirnstamm mit seinem begrenzten Satz antiquierter Algorithmen durch unsere Kultur.

Und in scheinbar archaischen Situationen, nämlich wenn wir uns bedroht fühlen und in Situationen, in denen wir einfach zu faul und zu bierärschig und zu bequem zum richtigen Denken sind, da feiert der Hirnstamm fröhliche Urständ. Und die Riesen-Arschlöcher der Weltgeschichte verstehen es und haben es immer wieder verstanden, dieses leichte, anstrengungslose Nicht-Denken unseres Reptiliengehirns dominieren zu lassen, indem sie uns mit wahnsinnig überzogen dargestellten  Bedrohungen durch fiktive Feinde in Angst versetzen wollen und uns zu suggerieren, das Reptiliendenken sei das Wahre, das Gegebene, das einzig richtige Denken, und sie ermutigen uns immer wieder, den Einflüsterungen der Kreidezeit nachzugeben. Antike Tyrannen, Kaiser, Könige Gröfaze, Kanzler, Präsidenten, Konzernbosse haben es stets so getrieben und treiben es immer noch so.

Und die Errungenschaften, die den Menschen von den Tieren unterscheiden, die Vernunft, die Diskursaffinität, Solidarität, das Mitgefühl, die Neugier, die bewusste Toleranz, der Zweifel und die Erkenntnis, Ethik, Offenheit, Ästhetik, Freiheit, Individualität etc. etc., die sollen keinen Platz mehr haben ...
 
Wow, das ist jetzt viel zu lang und zu pathetisch geworden. Aber die täglich, stündlich von uns zu beantwortende Frage ist dadurch klarer geworden:

Willst Du lieber ein Reptil sein oder ein Mensch?




(verändert via wiki commons)









* Ich kann mir vorstellen, dass ein Reptilienleben, das ausschließlich aus einer Aneinanderreihung so antrengungsloser, befriedigender, vollautomatisierter, hirnstammgesteuerter Operationen wie beispielsweise dem Rülpsen besteht, glücklicher ist, als das eines, sagen wir, normal-nachdenkenden, normal-zweifelnden, hobby-bloggenden, hobby-fliegenden Provinz-Paukers.

**Es gibt keine Diktatur, die rassistisch ist, aber z.B. mit LGBTQ gut leben kann. Und Homophobie geht immer einher mit politischem und / oder religiösen Fundamentalismus.









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