Lese gerade Kretschmanns "Worauf wir uns verlassen wollen", Untertitel "Für eine neue Idee des Konservativen" (Fischer, 2018). Kretschmans Versuch, wahrhaft Erhaltenswertes in Politik, Kultur etc. von einfach nur Spießigem, Verknöchertem, Rückwärtsgewandtem zu trennen, ist klug und löblich, aber beim Lesen befiel mich eine seltsame Ungeduld. Mir dämmerte: Das ist alles Quatsch. Konservativismus ist immer und grundsätzlich Quatsch.
"Konservativ" bedeutet, Bestehendes zu bewahren. Und bei genauer Betrachtung haben wir praktisch nichts, was wir konservieren sollten.
Ich beginne mit dem Beispiel, das mich selbst am stärksten betrifft: Hochtönend schwadronierte ich (auch hier, auf diesem Blog), ich sei ja, ach, so verfassungskonservativ. Das mag stimmen. Aber nur, wenn es darum geht, unsere Verfassung gegen jene Dummbratzen zu verteidigen, die sie abschaffen und durch etwas viel, viel Schlechteres und Menschenverachtenderes ersetzen wollen. Andererseits enthalten FDGO bzw. GG bzw. die Menschenrechts-Charta noch unglaublich viele Macken. Allein die Tatsache, dass unsere Politik, unsere Gesellschaft in dem Zustand sind, in dem sie sind, beweist, wie unendlich viel da noch nachgearbeitet werden muss. Es gibt keinen Grund, unsere Verfassung zu konservieren, zu bewahren, wie sie ist. Es gibt ein paar Gründe, die bisherigen Errungenschaften nicht wieder kaputtmachen zu lassen, aber sonst? Da muss ganz viel verändert werden!
Oder unsere Geschichte: Jaja, ich beziehe mich ja mitunter sehr positiv auf den "Alten Fritz", auf Goethe, Kant u.v.a.m. Aber aus jenen Epochen oder auch nur von jenen herausragenden Individuen etwas geistig konservieren zu wollen? Nee, also dazu waren sie, jeder für sich, dann doch zu arschig. Und es gibt keine einzige Epoche unserer lokalen, regionalen, nationalen, europäischen oder globalen Vergangenheit, die - auch nur in Teilen - des Konservierens würdig wäre. Es ist skandalös und ernüchternd, wie langsam wir uns geistig weiterentwickeln, aber wir entwickeln uns. Mir fällt jedenfalls keine Epoche ein, in der ich ruhiger, entspannter, behüteter leben könnte, als unsere gegenwärtige.
Ein weiteres Beispiel ist die Umwelt, die erhalten werden soll. Jaaa - neeh! Zweifellos wäre es klug, wenn wir eine Umwelt erhalten würden, in der wir als Menschen menschenwürdig, d.h. mit Lust und Freude, leben könnten. Im Moment sieht es aber so aus, als würde unsere evolutionäre Programmierung, blinder Egoismus, blutgierige Unersättlichkeit, gepaart mit fiesen, hinterhältigen kognitiven Fähigkeiten uns qua Über-Angepasstheit ins biologische "Aus" manövrieren. Das ist prinzipiell nix Neues: Der Säbelzahntiger starb aus, weil immer größere Eckzähne zwar sexy wirkten, ihn aber schließlich verhungern ließen, der eiszeitliche Riesenhirsch brachte dieselbe Nummer mit seinem Geweih und der Riesen-Hai Megalodon wurde einfach so immer größer, bis plötzlich kleinere Haie ihm das Essen wegschnappten. Und wir werden immer cleverer, immer opportunistischer, und obwohl wir uns damit in die Grütze fahren, können wir dieses Verhalten offenbar nicht abstellen. Wenn ich richtig, richtig natur- und umweltkonservativ wäre, müsste ich das sogar begrüßen. Und die paar Lebewesen, die den Abgang unser Art überleben, werden darob in der Tat sehr erleichtert sein.
Kretschmann erarbeitet dann noch aktualisierte Konservativismus-Definitionen für Familie, Religion, Nation usw., aber das fand ich eher langweilig, da hat mein alter Kumpel, der Dalai Lama, schon viel früher viel schlauere Sachen viel genauer auf den Punkt gebracht.
Kurz: Alles Festhalten ist grundsätzlich schlecht. Von nun an möchte ich nicht mehr konservativ sein. Nicht mal als Abwehr gegen die Bekloppten, die uns unbedingt nach 1933, ins Mittelalter oder die Steinzeit zurückführen wollen.
Statt früheren Vorbildern zu folgen, sollten wir wieder mehr kreative Energie darauf verwenden, eine eigene, neue, friedliche, fröhliche, menschliche Utopie zu leben.
(verändert via wiki commons)
It's okay to start again cause change is gonna come
Nothing ever stays the same, it's not like we're still young
Let's blow it up and burn it down so we can start anew
No fear of change, no fear of the unknown.
Nothing ever stays the same, it's not like we're still young
Let's blow it up and burn it down so we can start anew
No fear of change, no fear of the unknown.
All my hopes and memories are blowing in the wind
I started off with nothing and I'm back here once again ...
I started off with nothing and I'm back here once again ...
Amy Macdonald: From the Ashes