Samstag, 30. März 2024

Leben = Veränderung. Mach' was draus!


Kennt Ihr, werte Leser*innen, auch so zahlreiche Erinnerungen an Dinge, die Ihr gesagt oder getan habt und die Euch Jahre und Jahrzehnte später Gefühle brennender Peinlichkeit und Scham bescheren, blamable Dinge, für die Ihr Euch aus heutiger Sicht ohrfeigen könntet, wenn es was änderte?

Ich versuche mittlerweile, in dieser Hinsicht etwas gnädiger mit mir umzugehen. Meine Sozialisation in Kindheit und Jugend basierte auf den Vorstellungen des nordwestdeutschen nicht-akademischen Klein- und Mittelstands-Beamtenbürgertums der 1960er Jahre. Daran war nun wirklich nicht alles schlecht, aber als Vorbereitung auf die Denke der 70er und 80er und den akademischen Habitus dieser Zeit, war das grottig! Unterirdisch. Völlig verfehlt!

Ich musste, geworfen in diese Welt, alles selbst  herausfinden, im Regelfall durch Versuch-und-Irrtum. Und die Irrtümer, das sind gutteils die Dinge, die mir heute als unendliche Blamagen erinnerlich sind.  

Dabei mache ich meinen Eltern in ihrer Rolle als primäre Verantwortliche für meine Sozialisation überhaupt keinen Vorwurf. Die hatten ihrerseits auch beide das Problem, in Kindheit und Jugend auf allerlei, aber keinesfalls auf die Bedingungen ihres späteren Lebens vorbereitet worden zu sein: Meine Mutter als Beamten- und Offizierstochter der 1930/40er, zwangsindoktrinierte kleine Nazisse, traumatisiert durch Bombenkrieg und kriegs-zerrüttete Familie, musste sich als Jung-Erwachsene völlig neu orientieren. Mein Vater als Landei und Bauernkind aus dem dunkelsten Winkel des schwerstmehrfach-bäuerlich geprägten Westpreußens hatte (außer einer ziemlich guten Schulbildung) nach der Flucht Februar 1945 noch weniger Anknüpfungspunkte an das, was nun kam. 

Und wenn ich so weiter rückwärts durch meine Genealogie schaue, dann sehe ich da bei allen meinen einzelnen Vorfahren immer wieder dasselbe Schema: Eine mehr oder weniger stramme Sozialisation in Kindheit und Jugend, gefolgt von veränderten Lebensbedingungen, die das verabreichte Quantum an Sozialkompetenz ganz weitgehend zertrümmerten, so dass man mit den Bruchstücken irgendwie jonglieren und irgendwie was kongruentes Neues improvisieren musste. 

Bei genauer Betrachtung stelle ich fest: Meine Familiengeschichte der letzten 100 bis 150 Jahre ¹ besteht ausnahmslos aus derartigen Geschichten. Ich bin wahrscheinlich der Nachfahre von total peinlichen Leuten. Und diese Leute waren nicht peinlich, weil sie doof waren, sondern weil sie immer wieder auf der Grundlage einer unzureichenden Datenlage Hypothesen über angemessenes Verhalten entwickeln und probeweise im Alltag umsetzen mussten, um sich durchzuschlagen.

Die Methode heißt nun mal "Versuch-und-Irrtum" und nicht "Versuch-und-Erfolg". Sehr reiche und sehr mächtige Menschen könne vielleicht noch "Versuch-und-Mirdochegal" spielen, weil sie so bombenfest außerhalb und über der Gesellschaft stehen, dass Ihr Verhalten, egal welches, den grundsätzlich positiven Effekt hat, "Die feinen Unterschiede" zu zementieren. Aber in die Liga gehörte mein Clan leider nie. Wenn wir was falsch machten, waren das immer Irrtümer. Wir waren immer peinlich.




Uropis Militärpaß. 1900, im Alter von 19 Jahren, musste der gelernte und erfolgreiche Konditor aus Dissen bei Osnabrück zum Militär. 1902 zur Reserve bzw. Landwehr entlassen, dann noch vereinzelte Übungen bis 1913. Und als er 34 Jahre alt war, verheiratet und mit einer Tochter (meiner Omi mütterlicherseits), brachen die Mächtigen dieser Welt den Weltkrieg numero uno vom Zaun. Von Anfang an dabei, Ostfront, aber ab 1917 (nach einer Verwundung??) nur noch bei der Etappen-Hilfs-Kompagnie No. 30, wo er militärische Zugtransporte begleitete. 1919 Entlassung unter Abgabe von "1 Jacke, 1 Hose, 1 Paar Stiefel ..." usw. 

War Herrmann Christian erziehungsseitig auf sowas vorbereitet? Nope!

Habe ich, 81 Jahre später geboren, mich darüber zu beklagen, dass Leben = Veränderung? Nope!









¹ Ich kann meine patrilineare Familiengeschichte einigermaßen (!) sicher bis ins 15. Jhdt. zurücklesen. Da musste ein früher Vertreter unseres Namens offenbar nach einem Tête-a-tête mit einer Adligen aus Straßbourg fliehen. Er wandte sich nach Westfalen, und dann mendelte man sich mählich quer durch Europa bis nach Ostpreußen. Mag sein, wir sind peinlich. Langweilig sind wir nicht. 







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