Zwar neige ich dem aufklärerischen Selber-Denken zu, doch hilft mir die medizinal-obrigkeitliche Zertifizierung meiner Depression als solcher, da ich nunmehr aufhören kann, mir ob meiner schwiemeligen, diffusen und molluskenhafte Macke die üblichen Anwürfe des Spießertums selbst anzutun.
Gleichwohl denke ich natürlich über Ursachen nach, recherchiere und rede mit Leuten. Bei Letzterem fällt auf, wie viele Menschen, wenn das Gespräch in die Richtung trudelt, sagen, dass sie diese Gefühle des Ausgebranntseins bis hin zu einer - je nach Schwere mehr oder weniger ausgeprägten - Handlungsunfähigkeit in bestimmten Bereichen des Alltags verspüren bzw. regelmäßig selbst erleben. Die Zahlen nehmen zu, auch unabhängig von Corona, und ich frage mich, warum.
Sind wir alle Weicheier geworden? Haben nicht auch schon Veteranen des Weltkrieges Numero 2 moniert, dass selbst nach sechs Jahren an der Front so eine neumodische Pseudo-Krankheit wie PTBS bei ihnen nicht vorkam, während die heutigen BW-Schwuchteln damit schon nach einem Vierteljahr aus Afghanistan nach Hause kamen? Gibt es eine allgemeine, ungute Tendenz zu "unkonkreten Krankheiten" ¹ ?
In puncto Depression geht die Fachwissenschaft eher von einem Nachweis-Effekt aus: Früher war die Krankheit weniger bekannt und wurde folglich seltener diagnostiziert, meistens wurden dafür andere, falsche, Diagnosen vorgeschoben. Einen ähnlichen Effekt kennt man bei Krebserkrankungen.
Mir ist in den oben erwähnten Gesprächen ein Punkt aufgefallen, den ich hier als Hypothese formuliere und weiterer Beobachtung für würdig erachte: Unter Depressionen ² leiden vor allem Menschen, die sich Mühe geben bzw. gegeben haben, Menschen, die alles gut und richtig machen wollen bzw. wollten, Menschen, die sich für Aufgaben mit voller Kraft, mit ganzem Herzen, mit aller Seele einsetzen bzw. eingesetzt haben.
Ist es möglich, so fragt meine Hypothese, dass die Zahl der Depressiven mit der Durchsetzung der Forderung korreliert, wir müssten sowohl im Job als auch in der Kindererziehung als auch bei klima-, gesundheits- und sozialverantwortlichen Konsumentscheidungen als auch bei Liebe, Sex, Zärtlichkeit und Gendergerechtigkeit als auch bei allem Anderen entweder mit maximalem geistigen, körperlichen und spirituellen Totaleinsatz, mit nicht unter 110 % zur Sache gehen oder sollten es lieber gleich lassen?
Müssen wir vielleicht wieder lernen, dass man einen Job ³ nur dann dauerhaft, neudeutsch: nachhaltig, durchhält, wenn man ihn mittelmäßig erledigt, statt die Selbstanforderungen sukzessive und ad infinitum zu steigern?
Stopp! Bei dem Schlagwort "Mittelmaß" sollten wir kurz verharren. Geht es Ihnen, geneigte Leser*in, vielleicht auch so, dass "Mittelmaß" negativ konnotiert ist? Wenn jemand eine "nur mittelmäßige" Leistung abliefert, ist das schlecht, oder? Vorschlag: Wir setzen "Mittelmaß" wieder da hin, wo es sprach-logisch hingehört, nämlich an den höchstmöglichen Punkt einer Normalverteilungskurve. Und wir definieren: Mittelmaß ist normal. Wenn Du mittelmäßig arbeitest, ob zum Gelderwerb oder in der Kindererziehung oder sonstwo, hast Du die angemessen erwartbare Leistung erbracht. Mehr ist nicht vonnöten, nicht einklagbar und dauerhaft auch nicht durchzuhalten.
Frage: Wer hat eigentlich einen Nutzen davon, dass "Mittelmaß" zum Schimpfwort geworden ist?
Antwort: Der sogenannte Arbeitgeber und der zahlungskräftige Kunde in der ungebremsten Marktwirtschaft, der mit dieser Taktik permanent immer mehr Leistung von Dir einfordern kann, ohne, dass er mehr dafür zu zahlen hat.
Wenn wir alle uns wieder auf den ursprünglichen Standard einigten, dass das, was im statistischen Mittel (!) geleistet wird und zu leisten ist, hinreichend ist, dann könnte es sein, dass abhängig Beschäftigte seltener an Erschöpfungszuständen ausbrennen. Was ist das für eine bescheuerte Welt, in der Beschäftigte, die sagen, sie kämen mit den an sie gestellten Anforderungen gut klar, wegen offensichtlicher Minderleistung und/oder mangelndem Ehrgeiz verachtet werden?
Was war ich für ein bescheuerter Idiot, dass ich die normgemäßen Anforderungen als banalen Pflichtteil abgetan und meine beruflichen Lorbeeren stets in der darüber hinausgehenden Kür gesucht habe? Was war und ist der Dank? Puuuh...!
¹ Das Schlagwort "konkrete Krankheit" habe ich mir gerade ausgedacht. Wenn ich daran denke, dass aufgrund meines Ausfalls andere Menschen zu mehr Arbeit gezwungen werden, wünsche ich mir einen vorzeigbaren Beinbruch mit fettem Gips drumrum, wie anno dunnemals. Dann wäre mein Gewissen ruhiger. Das ist bekloppt, aber wahr.
² Aus Gründen der besseren Lesbarkeit tu ich mal so, als wäre der Begriff hinreichend definiert. Ist er nicht. Egal jetzt.
³ - und sogar einen Beruf (für Leute, die den Unterschied kennen und beachten)
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