Freitag, 5. November 2021

Wieso bei 60?

Zwar habe ich noch ein paar wenige Monate Zeit, aber die Zahl 60 kommt mit der gnadenlosen Brutalität eines Dampfhammers auf mich zu. Vor einem angriffslustigen Dampfhammer könnte man sich verstecken oder wegducken, vor der Mathematik leider nicht. Am meisten erstaunt mich meine eigene Reaktion, hatte ich doch in meinem gesamten bisherigen Leben niemals (!) ein Problem mit meinem Alter, auch nicht an "runden" Geburtstagen. 

Und es ist auch nicht, dass ich das Gefühl habe oder hatte, irgendwas verpasst zu haben¹. Würde ich itzt auf einer Bananenschale ausrutschen und mir glücklich (d.h. schnell und final) das Genick brechen, ich wär's zufrieden. Evolutionsbiologisch sind wir für 40 Jahre ausgelegt, d.h. ich bin schon 50 % drüber oder andersrum: Ein Drittel meines Lebens ist ohnehin schon Bonus-Material. Bereits zwei Mal (mindestens) hat nur die moderne Medizin dafür gesorgt, dass ich dieses Bonus' überhaupt teilhaftig werde.   

Wie ich neulich schon andeutete: Ich bin Lichtjahre davon entfernt, mich zu beklagen. 

Längeres Nachdenken führte zu folgender Erkenntnis: Die von mir so empfundene gnadenlose Brutalität des metaphorischen Dampfhammers erzeuge ich selbst. Ich bin einfach geistig zurückgeblieben. Irgendwann, Anfang, Mitte oder Ende 20, ging's im Kern meines Wesens nicht mehr weiter: Ein bisschen neugierig, ein bisschen unsicher, ein bisschen verpeilt, nicht un-fleißig, nicht un-nett, aber mit reichlich Sozialisationsmüll auf dem Buckel ... 

So habe ich sozial unauffällig vor mich hingelebt und natürlich viel gelernt, oh ja, aber im tiefsten Innern blieb immer so eine abgespeckte Spar-Version faust'schen Erkenntnisdranges richtungsweisend, so eine stets unsichere, besser: offene Neugier auf Menschen und Dinge. Genau das ist aber ein Attribut von Jugendlichkeit², und deshalb habe ich eigentlich nie das Gefühl entwickelt, ein "Erwachsener" zu sein oder jemals zu werden. 

Erstaunen und Verunsicherung verspüre ich jedes Mal, wenn mir im Rahmen menschlicher Begegnung eine durch und durch positiv gemeinte Seniorität zugewiesen wird. Kommt zum Glück nicht allzuoft vor. Im Job regel' ich das ziemlich flott mit dem Credo: "Ja, ich mach' das hier schon seit über 30 Jahren, und ich mache das gut, und es wäre erbärmlich, wenn ich in so langer Zeit keine überaus brauchbaren Erfahrungen gesammelt hätte. Aber Du kommst frisch aus der Ausbildung, bringst Engagement, aktuelles Wissen und Zugriff auf den dernier cri der Theoriebildung mit. Let's work together."

Andere Zuweisungen stoßen mir übler auf: Beispiel: Als die Nazis Ende 44 in größter Verzweiflung  den sogenannten "Volkssturm" gründeten, das allerletzte Häufchen militärischen Reserve-Elends, war die Altersgrenze: 16 bis 60. Ab 60, lerne ich, bist Du so ein Wrack, da nehmen Dich nicht mal mehr die Nazis zum Verheizen³. Alte Leute ab 60 sollen sich Corona-boosten lassen. Ab 60 dies, ab 60 das. Nur Arbeiten geht heutzutage offenbar bis 67, immerhin... 

Was wollte ich jetzt sagen? Ach ja: Der oben erwähnte metaphorische Dampfhammer, das ist meine selbstgemachte Befürchtung, dass die Differenz zwischen: "Man ist so alt wie man sich fühlt." einerseits und der gesellschaftlichen Rollenzuweisung an die Zahl 60 andererseits mir in Zukunft mehr Probleme bereiten könnte als bisher. Scheißdreck.

Hoffnungen und Ängste sind gefährliche Illusionen. 

Lao-Tse



(stark verändert via wiki commons)



¹ Nagut: Sex. Ich glaube, es hätte in meinem bisherigen Leben jede Menge mehr Sex geben können (und ich erwarte noch viel für die Zukunft). Allerdings glaube ich auch, dass das buchstäblich JEDE*r glaubt und hofft. Diese never-ending Sexsucht, so wird vermutet, ist sprichwörtlich Teil unserer DNA. Die Aussage "Ich hätte gerne mehr Sex, VIEL mehr Sex!" sollte deshalb in der (Zwischen-)Bilanz eines Lebens in einer anderen Kategorie behandelt werden, als z.B. die Aussage "Hach, da ich nun bald sterben muss, wünschte ich mir doch, ich hätte mich intensiver dem Klavierspiel gewidmet!" oder "Verdammt, ich war nie in Feuerland, immer war das Wetter zu schlecht!"

² Das ist natürlich eine idealisierte Zuschreibung, wie wir alle wissen. Es gibt 15-jährige, die sind so fertig, so un-neugierig und spießig, dass außer Stoffwechseln keine weiteren Lebensäußerungen mehr zu erwarten sind.  

³ Bitte nicht falsch verstehen! Ich will mich nicht beklagen. Es ist nur diese scharfe Trennung "alt" vs. "zu alt", die mich irritiert.



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