Tagesschau-Online bringt einen Artikel zu einer neuen Meta-Studie zur schädlichen Wirkung von Alkohol. Viel gefährlicher als gedacht, etc. etc. Hundertmal spannender als der Artikel sind aber die 128 Kommentare:
Gefühlte 80 % der ScribentInnen versuchen sich irgendwie aus der Vernunft-Nummer rauszuwinden. Zusammengefasst lauten die Argumente etwa so:
- Ich lasse mich vom Vernunft-Faschismus belastbarer wissenschaftlicher Aussagen nicht unterdrücken. Mein reptilienhirngesteuertes Verhalten ist zwar komplett doof und selbstzerstörerisch, aber ich verkaufe es einfach als heldenhaften Widerstand gegen ein diktatorisches System. Gibt es keine dazu passende Verschwörungstheorie?
- Ich habe so rein bauchmäßig-emotional nicht das Gefühl, dass Alkohol ein Zellgift ist. Deshalb (!) kann die Studie nicht stimmen.
- "Die" haben uns schon Frauenfeindlichkeit verboten und Schwulenhass, und "Neger" oder "Bimbo" dürfen wir auch nicht mehr sagen, kein Fleisch essen, keine Stinke-Autos fahren - und jetzt sollen wir auch noch am Saufen aufhören? Wozu leben wir dann noch? Ein Grund mehr, die AfD zu wählen, die sagen mir immer wieder, dass das total gut ist, was ich mache.
- Ich kenne ein paar Leute, die haben ihr Leben lang gesoffen und sind steinalt geworden. Das ist zwar nur meine völlig unrepräsentative, nicht-falsifizierbare Blödmann-Meinung, aber die hau' ich erstmal raus, schließlich gipps ja sowas wie Meinungsfreiheit.
- Es gibt viiiiel schlimmere Dinge als alkoholbedingte Krankheiten und Todesfälle. Ausländer zum Beispiel. Oder das Wetter. Oder die Benzinpreise. Oder Schalke könnte das nächste Spiel verlieren. Oder gewinnen. Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad ... Darüber sollten die mal berichten. Aber das wird ganz absichtlich verschwiegen. Wie war nochmal die Frage?
- Also, ich bin dagegen, dass Alkohol krank macht, und schließlich leben wir in einer Demokratie. Aber Diedaoben machen ja sowieso, was sie wollen. Auf uns kleinen Leute hört ja keiner. Da wird's schon Zeit, dass da mal einer aufräumt. Der Trump macht's richtig. Und der Erdogan, der Orban, der Gauland, die machen's auch richtig. Merkel muss weg.
Gefühlte 15 % der Kommentare zielen in die Richtung ethisch-ökologischer Besserwisserei, und man hat das Gefühl, dass sich hier langjähriger Frust über die ignorante Häme der Spießer entlädt. Ignorante Spießer-Häme kotzt mich auch an, aber es wäre der guten Sache wirklich dienlich, wenn die Kritk nicht nach dem Schema "Selbst schuld, allzu sterblicher Normalverbraucher! Bereue und nimm dir ein Beispiel an mir: Ich lebe seit zwölf Jahren nur von Sellerie und Eigenurin, vermeide Sex und Aufenthalte im Sonnenlicht und fühle mich wunderbar." erfolgte.
Es bleiben vielleicht 5 %, einsame Rufer in der Wüste, die in schlichten Worten auf die schlichte Tatsache hinweisen, dass Alkohol tatsächlich ein Zellgift ist, ein hocheffektives übrigens.
Es bleiben Fragen:
- Was muss sich am Wissenschaftsbetrieb, vor allem in der Frage der Veröffentlichungen, ändern, damit relevante Ergebnisse angemessene Beachtung finden und nicht so schrecklich einfach in der Meinungsmühle zermahlen werden können?
- Was muss sich in allgemeinbildenden Schulen ändern, damit die Menschen (wieder?) in die Lage versetzt werden, den Unterschied zwischen falsifizierbaren wissenschaftlichen Aussagen einerseits und dem reality-soap-gecasteten Meinungsdünnschiss von nieder-intelligiblen RTLII-C-Promis zu erkennen?
- Wie kann man Menschen dazu ermuntern, wieder Eigenverantwortung zu übernehmen und mit Kant sich mutig zu entschließen "sich [ihres] Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen"?
Lasst uns, wenn wir es denn unbedingt wollen und (WICHTIG!) soweit wir niemand Anders damit schädigen, rauchen und saufen und rumsexen und ... und ... und. Und wenn uns die solcherart akkumulierten Risikofaktoren eines Tages die finale und sehr persönliche Rechnung präsentieren, dann lasst uns, ohne die Schuld auf Andere abschieben zu wollen und ohne die Solidargemeinschaft über Gebühr zu belasten, vor allem aber ohne Weinen und Greinen möglichst voller Würde (und mit ein bisschen Trotz und einem wissenden Lächeln) abtreten.
(verändert via wiki commons)