Die Insassin eines Altersheims berichtet mir tränenaufgelöst, die Sitzordnung im Frühstücksraum sei geändert worden. Zwecklos meine Versuche, das tröstend mit eventuellen Anti-Corona-Maßnahmen zu begründen.
Es ist nicht an uns, die gefühlte Größe von Problemen anderer Menschen an scheinbar objektiven Maßstäben zu messen und zu qualifizieren. Oder konkreter: Sachliche Erklärungen oder Hinweise wie "'N appes Bein wäre schlimmer!" sind weder menschlich hilfreich noch logisch sinnvoll durchzuhalten. Denn es gibt für nahezu JEDEN denkbaren Fall ein noch größeres Problem, das man dagegen stellen könnte: Jesus wurde ans Kreuz genagelt, und die Sonne explodiert in fünf Milliarden Jahren und wird die Menschheit vernichten.
Derlei Vergleiche äußert aber niemand ernsthaft, sonst hätten wir häufiger Dialoge nach dem Schema "Ich habe Krebs und werde bald sterben!" "Na und? Heute werden 1.000 Menschen in Doitschland an Corona sterben. Dagegen geht's Dir also noch gold, Sonnyboy*!" Prinzipiell entstehen keine guten Gespräche, wenn wir bewerten, ob die Probleme, die ein Mitmensch formuliert, schlimm sind oder doch nur Pipifax.
Andererseits: Die Sitzordnung im Frühstücksraum ist nun wirklich kein Problem, das uns in Tränen auflösen sollte. Man kann das im Gespräch klären, Kompromisse finden usw. usw. Aufgrund intensiver Selbstbeobachtung und beiläufiger privater empirischer Sozialforschung weiß ich aber auch, es gibt immer wieder Sachverhalte, die uns Tag und Nacht beschäftigen, über erhebliche Zeiträume hinweg Energie und Schlaf rauben - und die wir erst spät, viel zu spät, als das erkennen, was sie sind: Vergleichsweise mickrig, banal und leicht lösbar, kurz: Pipifax.
Fazit nach jahrzehntelanger Beobachtung, Selbstbeobachtung und reiflicher Überlegung:
- Was uns als Problem beschäftigt und was nicht, ist subjektiv und es ist auch innerhalb eines Subjektes Wandlungen unterworfen.
- Ob uns eine Sache als Problem beschäftigt oder nicht, hängt davon ab, wieviel andere Probleme wir zu diesem Zeitpunkt bereits wälzen und welcher Güte diese anderen Probleme sind. Allzu drastisches Beispiel: Wenn Hunger mein Leben und das meiner Familie bedroht, wird mir die Sitzordnung im Speisesaal egal. Probleme sind also relativ.
- Anscheinend haben alle Menschen Probleme, die - von wenigen extremen Ausnahmen abgesehen - oft nicht der Kategorie der lebensbedrohenden Probleme zugerechnet werden können, in der Summe der Belastung aber stets mehr oder weniger gleich sind.
- Wenn Probleme subjektiv und relativ sind und - von wenigen extremen Ausnahmen abgesehen - quantitativ gleich empfunden werden, dann kann man nicht behaupten, Probleme seien objektiv da. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass sich jede*r Mensch so viele Probleme konstruiert, wie sie*er will oder braucht oder verträgt.
- Wenn die Vermutung zutrifft, dass unsere Probleme - von wenigen extremen Ausnahmen abgesehen - konstruiert sind, dann wäre es doch eine schlaue Idee, möglichst viele zu dekonstruieren und/oder gar nicht erst als solche zu haben, oder?
Zusammenfassung der Zusammenfassung: Es ist - von wenigen extremen Ausnahmen abgesehen - Deine eigene Entscheidung, wie glücklich oder unglücklich Du Dich fühlen willst.
* Zur Schreibweise s. hier.
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