Sonntag, 2. Dezember 2018

Sentimental journey


Jestern Hunderte alter Familien-Dias bei und mit meinen Eltern geschaut. Darunter zeigen vier, fünf meinen damaligen Freund B. Ein Schatzkästchen von Erinnerungen und späten Erkenntnissen öffnet sich.

B. und ich waren beide acht Jahre alt und hatten einander lieb, in einer Zeit und einer Art, bei der man natürlich nicht hinterschicken musste, dass das natürlich nichts mit Erotik o.ä. zu tun habe, sondern nur bedeutete, dass wir das Zusammen-Sein sehr genossen. Da musste gar nicht drüber geredet werden, so kristallklar war das.

Deshalb war ich auch nur einen halben Schritt hinter B., als er von einem schwerst-alkoholisierten Autofahrer aus seinem und meinem Leben gefetzt wurde. Ziemlich furchtbare und blutige Erinnerungen tauchen auf. Blöd auch, dass B. nicht sofort richtig tot war, sondern nur hirntot, so dass am nächsten Morgen eine ethische Entscheidung getroffen werden musste, die Maschinen abzuschalten. B.s Mutter, am Abend davor verständlicherweise völlig durchgedreht, frug schließlich, warum es denn ihren Sohn erwischt hätte, und nicht mich. Das Verhältnis zwischen B.s Eltern und meinen rutschte, Verständnis hin oder her, schlagartig auf einen Wert unterhalb des absoluten Nullpunkts.

Ich schwöre, jetzt kommt nichts Weinerliches. Aber die Frage hat mich damals auch umgetrieben. B. war klüger, viel sensibler, nachdenklicher und netter als ich. Warum er? Oh, ich habe nie gewünscht, an seiner Stelle zu sein. Die Option existierte nicht, und ich habe sie damals nicht mal theoretisch erwogen. Da bin ich, bei aller Liebe, sehr unsentimental und pragmatisch, sowohl als Achtjähriger als auch als Sechsundfünfzigjähriger.(*1)


Damit zurück zum "Schatzkästchen von Erinnerungen und späten Erkenntnissen" (s.o.). Die Erinnerungen lassen wir mal weg, das ist mein Privatkram.

Mir ist gestern Abend bewusst geworden, dass ich seit B.s Tod über Themen wie "Gerechtigkeit", "Schicksal" etc. etc. nachdenke. Als Achtjähriger bist Du natürlich auf der Suche nach den Funktionen, nach denen die Welt tickt. Du willst die Regeln herausfinden.

Und, Erkenntnis numero uno, Gerechtigkeit gehört nicht dazu.

Erkenntnis numero due: Das Konzept vom göttlichen Lenker, vom "lieben Gott" war mit B.s Tod auch vom Tisch. Allerdings habe ich mit großem Interesse und stets "sehr gutem" Erfolg am Religionsunterricht teilgenommen - zum Schluss nur noch, um wirklich ganz sicher zu sein, dass "göttliche Gerechtigkeit" nichts weiter ist, als ein Bullshit-Konzept, um die Massen ruhig zu halten. Nein, konfirmiert bin ich nicht.

Erkenntnis numero tre: Ich war damals äußerst empört, dass der Besoffene, der B.s Tod verschuldet hat, mit einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe davonkam, weil, gerichtliche Begründung, sein Besoffen-Sein strafmildernd angerechnet wurde. Zweifellos eine Folge dieser Geschichte: Schon als achtjähriger Knabe begann ich, eine sehr enge, fast schon brutale Definition der Begriffe "Verantwortung" bzw. "Eigenverantwortung" zu entwickeln.

Letzte Erkenntnis, passend zu "Spätfolgen" und "Verantwortung": Bin ich traumatisiert? In einer früheren Fassung dieses Textes habe ich B.s Unfall detailliert beschrieben, und es war wirklich fies. Und dass mir nahestehende Menschen auf ganz erbärmliche Weisen starben, erlebte ich anschließend noch ein paar Mal, ein Mal ganz besonders schlimm und ganz besonders nah. Ja, natürlich bin ich traumatisiert. "Trauma" meint eine "lange nachwirkende Verletzung"(*2). Wie stumpf soll und muss man denn andernfalls sein? Wie stark B.s Tod mich verletzt hat, habe ich jahrzehntelang nicht aktualisiert, erst gestern durch die Fotos ... Aber "Trauma" heißt nicht zwingend, dass mein alltägliches Leben in sozial-auffälliger Weise tangiert ist. Die Erinnerung an B.s Tod ist überhaupt nicht vergleichbar mit z.B. einem appen Bein. Die Dinge prägen uns. Es sind die Narbenmuster, die uns zu Individuen machen. Möchte ich sie missen? Auf keinen Fall!



 (RCAF-Spitfire, 1942; verändert via wiki commons)




 (*1) Fragt jetzt nicht, wie ich wohl entschieden hätte, wenn es eine Option gegeben hätte. Ich behaupte, derartigen Fragen können immer nur retrospektiv beantwortet werden.

(*2) Die schönste mir bekannte Trauma-Geschichte ist die einer Italienerin, die 2012 angab, sie sei traumatisiert vom Untergang der "Titanic", weil ihre Großmutter ihr so oft erzählt habe, dass deren Bruder, also der Großonkel, hundert Jahre vorher mit der "Ttanic" untergegangen sei. Wohlgemerkt war besagte Großmutter nicht mit an Bord, sondern viereinhalbtausend Kilometer entfernt auf dem Trockenen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wer für das Trauma der Enkelin zahlen muss:

  • A.) Die Großmutter, da sie so fahrlässig ihre Enkelin mit zusammenfantasierten Geschichten traumatisierte.
  • B.) Die Eltern, die offensichtlich nicht rechtzeitig eingriffen.
  • C.) Die Cunard-Line, die die "Titanic" betrieb.
  • D.) Die Betreiber der "Costa Concordia", anläßlich deren Unterganges bei besagter Enkelin die ganze Geschichte wieder hochkochte.  
  • E.) Die Journaille, die aus niederen Motiven Trauma-Stories pusht.
 Mehrfachantworten sind möglich.


















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