Samstag, 25. Januar 2020

Wider Ageism


Jestern aktuellen "Freitag" jelesen. Neues Wort jelernt: "Ageism". Famose Sache, das!

Ageism beschreibt die schändliche Kulturtechnik, Menschen allein aufgrund ihres Alters zu diskriminieren. Genauer gesagt: Es gibt ein Set gesellschaftlich konstruierter negativer Eigenschaften, die alten Menschen ohne Ansehen der Person zugewiesen werden, und es gibt ein ebensolches Set positiver Eigenschaften, die jungen Menschen zugewiesen werden. Alle diese Zuweisungen sind in der Regel unzutreffend, stabilisieren sich aber autokatalytisch.

Als demnächst 58jähriger wehre ich mich entschieden gegen diese Sozialpraktik und teile mit: In Wirklichkeit, also in meinem tiefsten Innern, fühle ich mich wie ein knackig-knuspriger, durchtrainierter Anfang-Zwanziger, der irrtümlich im Körper eines 58jährigen alten Zausels gefangen ist. Analog zur Praxis der Geschlechtsangleichung wünsche ich entsprechende medizinische Behandlung.

Aber wenn wir schon dabei sind: Es nervt mich auch, dass ich als weißer, heterosexueller cis-Mann, außerdem als Europäer, Deutscher, Beamter und Lehrer immer die volle Breitseite kriege. Auch, dass ich in Mathematik und Musik eine totale Pfeife bin, finde ich völlig unfair. Das muss alles weg- und umoperiert werden, da habe ich Anspruch drauf.

Kurz gesagt: Ich will nicht länger ich sein, denn mein wahres Ich ist Esperanza Spalding: jung, gutaussehend, erfolgreich, nett, dunkelhäutig, schlank, Mathematikerin, Musikerin. So, damit ist das Ziel klar, nun holt mal, Ihr Chirurg*innen, die Messer raus, macht, Ihr Genetiker*innen, CRISPR/Cas oder wasauchimmer klar.

Ach ja, in der neuen, meinem wahren Selbst gerechten Konfiguration möchte ich dann natürlich ewig leben - nicht, dass diese blöde Nummer mit dem Altwerden wieder von vorne losgeht ...

Vorher: 



Nachher: 

(vorgestern auf 3.sat in der Doku "Magie der Mathematik" gesehen: Esperanza Spalding. Bild stark verändert.) 


Damit keine Missverständnisse entstehen, hier das Wichtigste in Kürze:


  1. Ich kann die Seelenpein von Menschen, die im falschen Körper geboren sind, nicht wirklich nachempfinden, da ich selbst dieses Problem nicht habe. Deshalb habe ich in der Frage nach Ethik, Sinn und Unsinn von Geschlechtsangleichungen zu schweigen. Die obigen Zeilen sind NICHT als ironisierende Auseinandersetzung damit gemeint. Ich veräppele ausschließlich mich selbst ob meines Herumeierns in puncto Alter.
  2. Es gibt eine in der Tat erhebliche Diskrepanz zwischen meinem geistigen und meinem physischen Alter. In meiner Selbstwahrnehmung schwanke ich in der Regel zwischen 14 und 40, Spitzenwerte (selten) auch mal zwischen 6 und 3012.
  3. Wenn mein Körper mir mitteilt, dass er eine Leistung, die früher problemlos möglich war, heute nur noch murrend zu erbringen bereit ist, nehme ich das mit bösem Zynismus zur Kenntnis. Was anderes bleibt nicht, und das nervt.
  4. Und jaaa, es nervt mich auch manchmal, wenn jüngere Menschen mir mit altersbedingten Vorurteilen begegnen, aber das ist nie wirklich böse gemeint und viel seltener, als der o.g. Artikel im "Freitag" nahelegt, und ehrlicherweise muss man gestehen, dass nicht jedes Vorurteil per se falsch ist: Ich höre andere Musik, denke über andere Fragen nach, setze mich mit anderen Zukunftsoptionen auseinander, habe bestimmte Fehler bereits gemacht und Hürden genommen, die andere noch vor sich haben. So what?
  5. Bitte vergesst nicht, dass es auch positive Vorurteile gegen Alte gibt. Viel zu viele alte Säcke genießen diese Positiv-Zuschreibungen zu unrecht. Ein dummer, egoistischer, ewiggestriger Spießer sollte nicht zwingend durch's Alter vergoldet werden. 
  6. Ich bin völlig einverstanden, dass das Leben verschiedene Phasen hat und habe nicht das Gefühl, in irgendeiner Phase irgendwas verpasst zu haben, was ich jetzt noch nachholen müsste. Klar: Man könnte immer noch mehr flippige Erfahrungen gemacht, noch mehr Sex gehabt, noch weniger Krankheiten, weniger Leid erfahren haben, aber wenn man sich schon mit anderen Menschen vergleicht, dann bitte nicht nur mit denen, die von all dem Guten so viel mehr als ich, sondern auch mit denen, die davon soviel weniger haben. In der Summe ging und geht es mir GOLD!
  7. Und schließlich: Die Option, ewig zu leben, halte ich für absolut grauenhaft. Es fällt mir kein Szenario ein, in der ein, sagen wir, 300jähriger auf einer Party mit lauter jungen Leuten noch Spaß hat. Wie viele Parties hat der denn schon gesehen? Wie kann das noch spannend sein? Irgendwann kennt man alles und es kommt doch nur noch Mehr-vom-Gleichen, Gähn!





















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